Dossier
“Mit Angst regiert es sich leichter. Krisen ermöglichen es dem Staat, sich selbst als „hart durchgreifende“ Ordnungsmacht zu positionieren. Dies ist in gesundheitlichen Krisen nicht anders. (…) Seuchenschutzmaßnahmen erinnern an die Ausrufung von Kriegsrecht. In beiden Fällen herrscht besondere Aggressivität gegen „Abweichler“. Es sind Situationen veränderten Rechts – letztlich reduzierter Rechte für die Bürger und ausgeweiteter Rechte für die Staatsmacht. Während durch Seuchen bedingter Krisen werden unschuldige Staatsbürger teilweise wie Verbrecher behandelt. Sie müssen sich eine im Grunde entwürdigende Behandlung bieten lassen, die in normalen Zeiten als „No-Go“ gelten würde. Überwachungsmaßnahmen werden durch verstärkte Polizeipräsenz, jedoch auch elektronikgestützt durchgesetzt…” Artikel “Die Gesundheitsdiktatur” von Roland Rottenfußer vom 14.3.2020 bei Neue Debatte
, den wir später wohl nicht mehr verlinkt hätten, doch gab er einen guten Anlass für dieses Dossier zur kritischen Betrachtung der Freiheitseinschränkungen (ohne zugleich die Gefahr der Pandemie zu leugnen!):
- Pandemie: Warum Gerichte Corona-Auflagen kassieren
“In der ersten Phase der Pandemie sahen viele in Verboten Schutz. Aber das Grundgesetz steht für das Gegenteil. Freiheit ist die Regel, ihre Einschränkung ist die Ausnahme – und daher begründungsbedürftig. Als es so richtig losging mit der Corona-Krise im März, da sprachen manche von der Stunde der Exekutive. Das war schon damals nicht ganz richtig, denn auch die Parlamente haben entschieden und schnell gehandelt. Die Stunde der Judikative war es aber jedenfalls nicht. Dass sich die Justiz als entschiedener Gegenpol zu den drastischen Freiheitsbeschränkungen profiliert hätte, war in den ersten Wochen nicht zu beobachten. (…) Nun jedoch, ein paar Corona-Monate später, hat sich das verschwommene Bild scharf gestellt. Vieles ist wieder geöffnet oder teilgeöffnet, Beschränkungen werden präziser auf die Risiken abgestimmt – falls nicht, dann greift die Justiz ein. (…) Freiheit ist die Regel, ihre Einschränkung ist die Ausnahme – und daher begründungsbedürftig, auch im Kleinen. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat ebenfalls schon im Juni die Corona-Sperrstunde in Bayern außer Vollzug gesetzt. Warum man sich nach 22 Uhr im Wirtshaus eher anstecken soll als vor 22 Uhr, erschien den Richtern nicht nachvollziehbar. Mit ähnlichen Argumenten könnte man gegen die in Bayern nach wie vor andauernde Schließung von Kneipen und Bars vorgehen, meint Rechtsanwalt Alexander Lang, dessen Würzburger Kanzlei gegen die Sperrstunde geklagt hatte. Dass man sich beim Trinken eher ansteckt als beim Essen, liegt nicht unbedingt auf der Hand. Der “Verein zum Erhalt der bayerischen Wirtshauskultur” will klagen. Dass das Ende der Breitband-Verordnungen gekommen ist, illustrieren mehrere Entscheidungen zur Quarantänepflicht. (…) Die Übervorsicht der ersten Corona-Wochen, mit der die Gerichte gerade aus der Unwissenheit heraus Ge- und Verbote lieber bestätigten als beanstandeten, weicht allmählich einer gewissen, sagen wir: Risikobereitschaft. Explizit ist dies auch in den Entscheidungen zu den Reise-rückkehrern nachzulesen, wo kühl durchkalkuliert wird, wie hoch oder wie niedrig die Gefahr ist, wenn man in Ländern mit bestimmten Fallzahlen war. Risikobereitschaft? Dürfen Gerichte überhaupt ins Risiko gehen? Sollen sie es sogar? Oder müssten sie nicht, immer und überall, auf Sicherheit setzen? Die Wahrheit ist, dass das kalkulierte Risiko letztlich die zentrale Kategorie für den Umgang mit Corona ist. In der Anfangszeit wurde bei Beschränkungen oft der Schutz der Gesundheit betont. Das ist zwar richtig, aber unvollständig: Es ging nie um einen absoluten Gesundheitsschutz – sonst wäre bei mehr als 9000 Toten die Pandemiebekämpfung ein grandioser Fehlschlag gewesen. Es ging immer darum, die Gefahren der Pandemie möglichst gering, auf jeden Fall aber kontrollierbar zu halten. Insofern ist es ein Akt der Ehrlichkeit, wenn Gerichte und Behörden nun offen die Risiken für die Gesundheit gegen Einbußen an Freiheit abwägen….” Artikel von Wolfgang Janisch vom 1. August 2020 in der Süddetschen Zeitung online - [COVID-19 Global Monitor] EU-Kommission startet Monitor der Grundfreiheit
“… Um negative Auswirkungen für Menschenrechte und Grundfreiheiten der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie identifizieren und Missstände kritisieren zu können, startet die EU-Kommission die Online-Plattform “Global Monitor”. Von diesem Dienstag an sollen auf einer interaktiven Weltkarte für 162 Länder Daten von Organisationen wie Reporter ohne Grenzen oder von Universitäten aus Oxford und Melbourne gesammelt und alle 14 Tage aktualisiert werden. Jutta Urpilainen, die Kommissarin für Internationale Partnerschaften, wird das Pilotprojekt vorstellen mit Hannah Neumann, der Vizevorsitzenden des Menschenrechtsausschusses im Europaparlament. “Es besteht die große Gefahr, dass sich im Schatten der Corona-Gesundheitskrise die Menschenrechtslage weltweit weiter verschlechtert”, warnt Neumann im SZ-Gespräch. Sie hat bei der Kommission erfolgreich für den Monitor geworben, damit sich neben der Öffentlichkeit auch Politiker und Medien schnell informieren können, wo welche Maßnahmen im Kampf gegen Corona getroffen wurden – und ob diese verhältnismäßig und befristet sind. (…) Drei Ziele habe der Online-Monitor: Neben der Übersicht über die Maßnahmen, die beschlossen wurden, um Covid-19 einzudämmen, soll ersichtlich werden, ob und wann die Regeln zurückgenommen wurden. Denn es besteht die Gefahr, dass diese die Rechte der Opposition oder kritischer Medien beschneiden. Dies sei nicht nur schädlich für die Demokratie, sondern auch für den Kampf gegen Covid-19. Drittens soll das Projekt helfen, Trends zu erkennen, wie die Rechte von Bürgern eingeschränkt werden. Dass solche Eingriffe nötig sein können, um das Virus in den Griff zu kriegen, zweifeln Menschenrechtsexperten nicht an. (…) Es bestehe kein Zweifel, dass die zweite Corona-Welle beziehungsweise die nächste Pandemie bald kommen wird. In Brüssel hofft man, dass der “Global Monitor” eine konstruktive Debatte über die angemessene Einschränkung individueller Freiheiten fördert.” Beitrag von Matthias Kolb vom 7. Juli 2020 bei der Süddeutschen Zeitung online, siehe den englischsprachigen COVID-19 Global Monitor
- Grundrechte gehören nicht in Quarantäne: Die Humanistische Union formuliert Forderungen zur Corona-Pandemie /Mit Gesundheitspflicht gegen Grundrechte: Warum wir mit Corona unsere Freiheiten verloren haben
- Grundrechte gehören nicht in Quarantäne: Die Humanistische Union formuliert Forderungen zur Corona-Pandemie
“… Die Humanistische Union fordert: – Jede Maßnahme, die wegen der Pandemie Grundrechte einschränkt oder ihre Geltung aussetzt, muss befristet sein. Bevor die Fortgeltung solcher Maßnahmen angeordnet wird, muss demokratisch überprüft werden, ob sie zur Erreichung des angestrebten Ziels noch die geeignetsten und mildesten Mittel sind, und ob sie noch angemessen sind. Dazu gehört die transparente und sorgfältige Abwägung der mit der Grundrechtseinschränkung verbundenen Risiken. Bei allen Maßnahmen müssen auch die damit verbundenen anderen Risiken (z.B. das Risiko häuslicher Gewalt) berücksichtigt werden. – Zu einer demokratischen Überprüfung der Fortgeltung von Grundrechtseinschränkungen gehört zwingend die Mitwirkung parlamentarischer Körperschaften. Anderslautende Ermächtigungen der Exekutive sind wegen ihrer Verfassungswidrigkeit aufzuheben. – Einschränkungen des Versammlungsrechts, die über das durch den Infektionsschutz gebotene Maß hinausgehen, sind sofort zurückzunehmen. Die Humanistische Union begrüßt daher die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass bei Anmeldungen von Versammlungen die Behörden ihren Ermessensspielraum nutzen und konkrete Einzelfallprüfungen vornehmen müssen. – Derzeit wird über eine Corona-App als Allheilmittel zur Nachverfolgung von Infektionsketten zur Eindämmung der Pandemie diskutiert. Der stellvertretende Bundesvorsitzende der Humanistischen Union, der Informatiker Stefan Hügel, warnt: “Eine solche Corona-App birgt erhebliche Risiken für den Datenschutz und damit für die Persönlichkeitsrechte bei gleichzeitig unklarem Nutzen für den angestrebten Zweck.” Die Erwartungen an eine “Corona-App” müssen daher klar formuliert werden, und die App muss so entwickelt werden, dass sie ihren Zweck und die notwendigen Datenschutzstandards erfüllt. – Es müssen datenschutzfreundliche und sichere Lösungen für mobiles Arbeiten entwickelt werden. Dabei müssen die Lasten gerecht und nicht einseitig auf die Arbeitnehmer abgewälzt werden. – Die staatlichen Versäumnisse bei der Digitalisierung müssen aus aktuellem Anlass benannt werden, um sie zu beseitigen. – Die Privatisierung großer Teile der öffentlichen Infrastruktur muss auf den Prüfstand. – Es muss im Hinblick auf zukünftige Krisen, insbesondere in Folge des Klimawandels, geklärt werden, was wir aus der Corona-Krise lernen können bzw. müssen. Die Wahrung der Grundrechte muss Staat und Gesellschaft bei jeder Krisenbewältigung leiten. – Die Notversorgung und Evakuierung der Flüchtlinge in den durch die Corona-Krise besonders bedrohten Flüchtlingslagern an der Südgrenze der Europäischen Union müssen durch eine europäische, humanitäre Lösung sichergestellt werden…” Aus der Erklärung der Humanistischen Union, veröffentlicht am 29. Mai 2020 bei der Internationalen Liga für Menschenrechtezum Positionspapier der Humanistischen Union zur Corona-Krise
- Mit Gesundheitspflicht gegen Grundrechte: Warum wir mit Corona unsere Freiheiten verloren haben
“… Hier soll nicht ignoriert werden, dass eine Pandemie wie Corona jedes Gesundheitssystem überfordern kann. Aber es kommt darauf an, ab welcher Fallzahl und ab welchem Zeitpunkt die Überforderung eintritt. Ein gut aufgestelltes Gesundheitssystem mit Leistungsreserven kann dafür sorgen, dass dieser Zeitpunkt deutlich später eintritt als es jetzt der Fall ist. Ein Gesundheitssystem, welches bei Normalauslastung ausreichend Luft nach oben hat bis es an seine Leistungsgrenze stößt, verschafft der Gesellschaft und den politischen Entscheidern wertvolle Zeit, um z.B. vor der Aussetzung von Grundrechten die Wirksamkeit milderer Maßnahmen zu prüfen. Denn auch in Ausnahmesituationen wie dieser darf der Staat nur dann in Grundrechte eingreifen, wenn dies verhältnismäßig ist. (…) Wir können aus an dem hier beschriebenen mindestens folgendes ableiten: 1. Die Schließung öffentlicher Krankenhäuser und der Verkauf einer großen Zahl der verbliebenen Einrichtungen an private Eigentümer war ein kapitaler Fehler, der uns jetzt teuer zu stehen kommt. Dabei werden wir als Gesellschaft gleich mehrfach zur Kasse gebeten: Während der Krise zahlen wir mit der Aussetzung von Grundrechten, mit der Gesundheit unserer Krankenpflegekräfte und mit der wirtschaftlichen Existenz zahlreicher Betriebe und kultureller Einrichtungen. Hier muss dringend umgesteuert werden. 2. Wir beobachten, dass unter den aktuellen Corona-Bedingungen der politische Wille der Bundes- und Landesregierungen sehr schnell eine bisher ungekannte unmittelbare Wirkung im Alltag entfaltet: Neben der Einschränkung der Grundrechte werden per Verordnung Betriebe und Geschäfte geschlossen. Dies wäre so vor Corona nicht denkbar gewesen. 3. Als Gesellschaft können wir die Erkenntnis unter 1. und die Beobachtung unter 2. als Momentum nutzen, um die Politik zu einer Umkehr in der Gesundheitsvorsorge zu bewegen: Die krisenfeste Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung muss wieder Staatsaufgabe werden. Dies ist dringend geboten, damit sich das aktuelle Szenario nicht wiederholt. Argumente aus der Politik, dass ein Umbau des aktuellen Gesundheitssystems aufgrund zahlreicher politischer und finanzieller Sachzwänge nicht möglich sei, sind kraftlos: Alles, was durch die Politik auf diesem Feld entschieden wurde kann auf dem gleichen Weg wieder revidiert werden. Wenn es notwendig ist Grundrechte einzuschränken, um das Gesundheitssystem zu schützen, dann ist das ein unüberhörbarer Weckruf. Verantwortlich für die aktuelle Situation ist nicht ein heimtückisches Virus. Verantwortlich sind vielmehr die politischen Entscheidungsträger, die unser Gesundheitssystem in die Lage gebracht haben, schutzbedürftig zu sein. Es geht darum, den Willen zur Umsteuerung in der Gesundheitspolitik zu wecken und ihn gegen Widerstände wach zu halten. Dazu braucht es unser aller Engagement in einer öffentlichen Debatte nach Corona, damit wir unsere Freiheiten nicht noch einmal wegen eines geschwächten Gesundheitssystems verlieren.” Beitrag von Marc Schlichtherle vom 30. Mai 2020 bei Telepolis
- Grundrechte gehören nicht in Quarantäne: Die Humanistische Union formuliert Forderungen zur Corona-Pandemie
- Corona und Grundrechte: Augenmaß statt Angst /Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren
- Corona und Grundrechte: Augenmaß statt Angst
“Fakt ist: Über Sars-CoV‑2 ist noch so wenig bekannt, dass aktuell niemand mit Sicherheit sagen kann, wie gefährlich das Virus ist. Die Wissenschaft forscht und publiziert tagesaktuell. Wöchentlich werden neue Studien (oft vor dem Peer-Review) veröffentlicht und umgehend mit ebenso guten Argumenten angezweifelt. (…) Nun fragen uns Menschen, warum wir gerade keine Demonstrationen organisieren oder uns den Straßenprotesten anschließen. Einer unserer Gründe: Weil wir diese Abwägung zwischen Freiheitseinschränkungen und Infektionsschutz nicht für die gesamte Gesellschaft treffen können. Ja, unsere individuelle Freiheit wird stark eingeschränkt, wenn wir wenig rausgehen sollen, Kontakte meiden und Mund-Nase-Schutz tragen sollen. Auch wir halten einzelne Maßnahmen für überzogen oder falsch. Aber wir gestehen Menschen, die Verantwortung tragen, zu, Fehler zu machen. Fehler können später korrigiert werden. Wer keine Verantwortung für andere trägt, hat leicht reden. Die Zahlen zu Infektionen und Sterbefällen, die nach und nach immer genauer wissenschaftlich erhoben werden, zeigen aber, dass wir in Deutschland die Krise gerade ziemlich gut meistern. Nein, wir lassen damit uns nicht auf das übliche „der Zweck heiligt die Mittel“ ein, mit dem unsere Innenpolitiker.innen üblicherweise ihr Sicherheitstheater rechtfertigen. Vielmehr bestätigen diese Statistiken die Aussage der Bundesregierung, dass die meisten Einschränkungen ein sozialer, solidarischer Akt von uns allen sind. Der funktioniert. (…) Worauf wir achten: Jede Maßnahme muss nach dem aktuellen Wissensstand legitim, geeignet, erforderlich, angemessen sein – und begründet werden. Der Ausnahmezustand darf nicht zur Regel werden. Es muss immer ein Datum geben, an dem diese Einschränkung automatisch wegfällt. Wenn sich eine Maßnahme nicht bewährt oder offensichtlicher Unsinn ist, tragen wir sie nicht mit. (…) Querfront? Ohne uns – Nicht jede Demo, die sich die Verteidigung der Freiheit auf die Fahnen schreibt, ist in unserem Sinne. Aktuell protestieren in vielen deutschen Städten Menschen gegen die Einschränkungen von Grundrechten im Zuge der Pandemie. Wir sind uns aber sicher, dass einige davon gar nicht die Freiheit meinen, die wir meinen, sondern Willkür. Selbst wenn es nicht in der Absicht der Initiator.innen liegen sollte: Rechtsextreme versuchen, jede halbwegs erfolgreiche Bewegung zu vereinnahmen. Auf den sogenannten „Hygiene-Demos“ gegen die Corona-Beschränkungen argumentieren Menschen, sie seien doch nur „um die Freiheit besorgt“. Eigentlich aber hegen und schüren sie Verachtung gegenüber der Demokratie und gegenüber demokratischen Strukturen, gegenüber demokratisch gewählten Politiker.innen („Eliten“), gegenüber der freien Presse und der freien Wissenschaft. Das Narrativ der „besorgten Bürger“, denen nicht ausreichend zugehört wird und das schon für Pegida beansprucht wurde, setzt sich hier fort und spricht auch viele Menschen an, die sich selbst nie als „rechts“ bezeichnen würden. (…) Die Corona-Kurve flach zu halten, ist weiterhin ein Ziel, an dem wir von Digitalcourage mitwirken wollen: Aus Solidarität und Verantwortung gegenüber der Gesundheit aller. Die Lage ist für uns alle, weltweit, komplett neu. Wahrheit braucht Zeit. Diskussionen brauchen Zeit, sind vielschichtig und kompliziert. Deshalb wird Digitalcourage jetzt nicht reflexhaft nach Lockerungen schreien, sondern wir bleiben ruhig, sachlich, achtsam und wachsam. Genau dafür brauchen wir Ihre Unterstützung.” Stellungnahme von digitalcourage vom 8. Mai 2020 - Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren. Thesenpapier 2.0 – Die Pandemie durch SARS-CoV‑2/Covid-19
“Bestärkt durch viele positive Reaktionen auf ihr erstes Thesenpapierhaben die Autoren nun das Thesenpapier 2.0 veröffentlicht. Dabei üben sie nicht nur Kritik an den Maßnahmen, die auf der Grundlage einer völlig unzureichenden Datenlage beschlossen worden sind, sondern auch unterschwellig an der bisherigen Kommunikation: Sie fordern “einen sachlichen und gelassenen Austausch von Argumenten, der nichts beschönigt, aber auch nichts unnötig dramatisiert”. Alle Beteiligten müssten darauf hinwirken, dass “es nicht zu geschlossenen Argumentationsketten kommt, die anderslautenden Nachrichten keinen Raum mehr geben können”. Gleichzeitig erinnern die Autoren in ihrem Vorwort daran, dass SARS-CoV‑2/Covid-19 eine typische Infektionskrankheit ist – zwar mit enormen “Auswirkungen auf die Gesundheit, auf die Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung und auf die sozialen Systeme”, aber die Erkrankung stelle keinen Anlass dafür dar, “in quasi metaphysischer Überhöhung alle Regeln, alles Gemeinsame, alles Soziale in Frage zu stellen oder sogar außer Kraft zu setzen…” Thesenpapier 2.0
auf der Sonderseite des Ärzte Kollektivs Reichenberger Str.
– Autoren: Prof. Dr. med. Matthias Schrappe Universität Köln, ehem. Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit; Hedwig François-Kettner, Pflegemanagerin und Beraterin, ehem. Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, Berlin; Franz Knieps, Jurist und Vorstand eines Krankenkassenverbands, Berlin; Prof. Dr. phil. Holger Pfaff Universität Köln, Zentrum für Versorgungsforschung, ehem. Vorsitzender des Expertenbeirats des Innovationsfonds; Prof. Dr. med. Klaus Püschel, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Rechtsmedizin Prof. Dr. rer.nat. Gerd Glaeske, Universität Bremen, SOCIUM Public Health, ehem. Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit
- Corona und Grundrechte: Augenmaß statt Angst
- Internationale Strategien zur Stabilisierung der Machtverhältnisse – die totale Überwachung ist erreicht
“Nach dem Ende der bipolaren Welt im Jahr 1989 und dem Abhandenkommen von Gegnern und Grenzen wurden unter der Regie der USA auch alle Einschränkungen im Verkehr von Gütern und Kapital aufgehoben. Dies zu einem Zeitpunkt, an dem sich fast die Hälfte der Staaten der Welt erstmalig dem ausländischen Kapital öffnete, das dann auf ein riesiges Angebot an billigen und qualifizierten Arbeitskräften, einem enormen Vorkommen an Naturschätzen und einem noch nicht da gewesenen großen Absatzmarkt traf. Das kam vor allem dem Kapital der USA, als neue unipolare Macht zugute. Gleichzeitig bekam die Verbreitung des Neoliberalismus einen Schub, bei dem das Kapital von Einschränkungen befreit und der Arbeitsschutz, die öffentliche Daseinsvorsorge und der Sozialstaat nachhaltig abgebaut wurden. Vor dem Hintergrund des globalen Kapitalismus mit seinen sozialen Desintegrationsprozessen wurden parallel dazu internationale Strategien entwickelt, um zu gewährleisten, dass die Machtverhältnisse auch stabil bleiben. Dazu wurde vor allem die Polizei militarisiert, das Militär im Inneren einsetzbar gemacht und es gibt mittlerweile kaum ein gesellschaftliches Problem mehr, auf das seitens der Politik nicht mit der Verschärfung des Strafrechts reagiert wird. Gleichzeitig wurde ein Überwachungssystem errichtet, in dem die Bevölkerung total überwacht, von jeder Person massenhaft Informationen gesammelt, sie erpressbar gemacht und ein immenses Meinungs- und Unterhaltungsangebot mit dem Internet aufgebaut wurde, damit die Massen beschwichtigt und ablenkt werden. Das digitale Zeitalter hat Überwachung so billig und einfach gemacht, wie noch nie, auch deshalb, weil ein Großteil der Daten freiwillig von den E‑Phons geliefert werden. (…) Konzerne wie Facebook und Google sammeln Daten in einem unfassbaren, nie dagewesenen Ausmaß – unbeschränkt, dauerhaft. Dies umfasst nicht allein freiwillig zur Verfügung gestellte Informationen, sondern die digitale Erfassung und Überwachung aller Aktivitäten, weit über die Nutzung einzelner Social-Media-Plattformen hinaus. Auch ist es nicht auf die Daten derer beschränkt, die sich bewusst dafür entschieden haben, diese Dienste zu nutzen. Während internationales Recht und Verfassungen elementare Menschenrechte garantieren, staatliche Behörden reglementieren und diese einer rechtsstaatlichen Gewaltenkontrolle unterwerfen, haben diese Konzerne ein privates Überwachungsregime geschaffen, welches sich der unabhängigen öffentlichen Kontrolle weitgehend entzieht. Parallel zum Ausbau des weltweiten Überwachungssystems, in dem die Bevölkerung total ausgehorcht, von jeder Person massenhaft Informationen gesammelt werden, sie erpressbar macht, wurde parallel dazu ein immenses Meinungs- und Unterhaltungsangebot mit dem Internet aufgebaut, mit dem man die Massen beschwichtigen und ablenken will. Dazu kommt, dass die USA und auch die europäischen Staaten über ein Heer von Einflussjournalisten in Kooperation mit der monopolisierten Medienmacht verfügt, die globale Kommunikation weitgehend steuert. Mehr noch, in der Zusammenarbeit der staatlichen Behörden und Geheimdienste, IT-Unternehmen und Medienkonzernen ist ein Überwachungssystem entstanden, das sich selbst George Orwell in seinem utopischen Roman „1984“ nicht ausmalen konnte.” Beitrag vom 5. Mai 2020 vom und beim Gewerkschaftsforum - Coronakrise: Eine bedrohliche Entwicklung für die Grundrechte /Gedanken und Thesen zum Corona-Ausnahmezustand
- Coronakrise: Eine bedrohliche Entwicklung für die Grundrechte. Der Menschenrechtsanwalt Eberhard Schulz über die Corona-App, die Einschränkungen der Grundrechte und drohende Eingriffe ins Arbeitsrecht
“… Es drohten Maßnahmen des Arbeitszwangs, die nach Art. 12 Abs. 2 Grundgesetz verboten sind. Sehr problematisch sei also die Heranziehung von Angehörigen bestimmter Berufsgruppen wie Ärztinnen und Krankenpflegerinnen sowie Grundrechtseinschränkungen im Arbeitsschutzrecht und im kollektiven Arbeitsrecht. Bereits im März 2020 seien Gesetze auf diesen Gebieten aufgrund von jeweils wenige Tage zuvor von der Bundesregierung erstellten “Formulierungshilfen für die Koalitionsfraktionen für einen aus der Mitte des Deutschen Bundestages einzubringenden Entwurf eines Gesetzes” zu Stande gekommen; alle drei Lesungen des Bundestages fanden jeweils an einem Tage ohne Aussprache statt, geschweige denn Anhörung von Experten und Beteiligten. (…) Als jahrzehntelang als Fachanwalt für Arbeitsrecht tätigem Rechtsanwalt scheinen mir insbesondere die neuen kollektivrechtlichen Regelungen mehr als problematisch, brechen sie doch mit den eigentlich selbstverständlichen Grundsätzen der Vertretung von den Interessen der abhängig Beschäftigten durch Betriebs- und Personalräte. Sollen doch wichtige Beschlüsse dieser Gremien in Zukunft – zumindest befristet – per Video- oder Telefonkonferenz oder sogar im Umlaufverfahren, also ohne Aussprache, zu Stande kommen können. Damit wäre die nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland mühsam erkämpften Beteiligungsrechte der Interessenvertretungen vollkommen ausgehöhlt, dürfen doch derartige Beschlüsse nach den bisher geltenden gesetzlichen Regelungen nur bei persönliche Anwesenheit ihrer Mitglieder in nicht öffentlicher Sitzung mit Aussprache und Abstimmung nach demokratischen Regeln wirksam zu Stande kommen…” Interview von Marcus Klöckner vom 03. Mai 2020 bei telepolis - Gedanken und Thesen zum Corona-Ausnahmezustand
“Sich an bestimmte Regeln zu halten, um seine Mitmenschen und sich selbst so gut wie möglich zu schützen, dürfte angesichts der Corona-Epidemie und ihrer Gefahren absolut sinnvoll sein – wenn damit die Ausbreitung des Virus verlangsamt, das krank gesparte Gesundheitswesen vor Überlastung bewahrt und das Leben besonders gefährdeter Personen geschützt werden kann. Dennoch sollten wir die gegenwärtige alptraumhafte Situation im Gefolge des Corona-Virus (Covid-19) kritisch hinterfragen sowie auf Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit überprüfen – gerade in Zeiten dirigistischer staatlicher Zwangsmaßnahmen, gerade in Zeiten allgemeiner Angst, Unsicherheit und Anpassung. Zumal die einschneidenden, unser aller Leben stark durchdringenden Maßnahmen letztlich auf Basis einer ungesicherten wissenschaftlichen Datenlage verhängt worden sind. Die folgenden skeptischen Gedanken und zuspitzenden Thesen sollen dazu beitragen, die komplexe und unübersichtliche Problematik einigermaßen in den Griff zu bekommen und bürgerrechtliche Orientierung zu bieten für eine offene und kontroverse Debatte. Diese Debatte leidet derzeit leider noch immer unter Angst, Einseitigkeit und Konformitätsdruck, auch unter Diffamierung und Ausgrenzung (…) Bei so viel Angst und seltener Eintracht sind Skepsis und kritisches Hinterfragen von vermeintlichen Gewissheiten und autoritären Verordnungen nicht nur angezeigt, sondern dringend geboten. Schließlich gehört das zu einer lebendigen Demokratie – nicht nur in Schönwetterzeiten, sondern gerade in solchen Zeiten wie diesen, gerade in Zeiten großer Gefahren, die nicht nur aus einer, sondern aus unterschiedlichen Richtungen lauern.” Aus dem Vorwort des Autors zum Artikel von Rolf Gössner vom 24.04.2020 bei Ossietzky– eine ergänzte und aktualisierte Langfassung eines Beitrags, der in gekürzter Version in der Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft „Ossietzky“ Nr. 8 v. 18.04.2020 erschienen ist
- An Überwachung gewöhnen. Kontrolle und Überwachung gefährden die Bürgerrechte
“Im Rahmen der Pandemiebekämpfung werden Überwachungmöglichkeiten und Kontrollbefugnisse weiter ausgebaut. Das Virus ermöglicht es, Maßnahmen durchzusetzen, die zuvor noch sehr umstritten waren. (…) Wieso soll es für den Infektionsschutz unbedenklich sein, von Heinsberg nach Köln zu reisen, während die Fahrt von Kaiserslautern nach Metz oder von Görlitz nach Zgorzelec verboten bleibt? Die einst als größte Errungenschaft der Europäischen Union gepriesene Freizügigkeit ist vorerst Geschichte. Das Virus wird zum Vorwand einer neuen Nationalstaaterei. Vor knapp sechs Wochen begann der deutsche lockdown. Seit zwei Wochen gibt es zögerliche Lockerungen. Es ist aber unklar, ob und wann die Grundrechtseinschränkungen zur Gänze zurückgenommen werden. Die Polizei und die Ordnungsämter werden vermutlich mit gestärkter Autorität aus der Coronakrise hervorgehen, ihre Maßnahmen zur Durchsetzung der lokalen Verordnungen führen dazu, dass sich die Bürger an Überwachung und Kontrolle bei alltäglichen Verrichtungen gewöhnen. In einigen Städten und Gemeinden bot die Bekämpfung des Coronavirus den Anlass, neue Formen von Repression zu installieren. Dort kontrolliert die Polizei die Einhaltung der Allgemeinverfügungen beispielsweise mit Videoüberwachung und Drohnen. Manche Gemeinden heuern private Sicherheitsdienste an, die Menschenansammlungen feststellen und verwarnen sollen. Auch die Bundeswehr hält 5.500 Soldaten für »Absicherung/Schutz« und 600 Feldjäger bereit...” Kommentar von Matthias Monroy in der Jungle World vom 30.04.2020
- Coronakrise: Eine bedrohliche Entwicklung für die Grundrechte. Der Menschenrechtsanwalt Eberhard Schulz über die Corona-App, die Einschränkungen der Grundrechte und drohende Eingriffe ins Arbeitsrecht
- Saarländischer Verfassungsgerichtshof kippt Ausgangsverbote
“Die Entscheidung verweist darauf, dass es keine belastbaren Belege für die Wirksamkeit der angeordneten Ausgangsbeschränkungen gibt.
Es beginnt eine Wende. Bislang konnten die Regierungen weitgehend unbehelligt von der Opposition und den Gerichten zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie weitreichende Einschränkungen der Grundrechte durchsetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits geklärt, dass eine allgemeine Einschränkung der Versammlungsfreiheit nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist (Verfassungsgericht: Demonstrationsrecht gilt trotz Corona-Pandemie). Jetzt durchbricht der saarländische Verfassungsgerichtshof aufgrund eines Eilantrags eines saarländischen Bürgers eine weitere Schwelle und ordnete an, dass die Ausgangsbeschränkungen nicht erst Anfang Mai, wie von der Landesregierung vorgesehen, sondern sofort gelockert werden müssen. Das wird in ganz Deutschland Folgen haben, etwa in Bayern, wo die Regierung gerade die Maßnahmen bis zum 10. Mai verlängert hat, auch wenn Gottesdienste und Versammlungen ab 4. Mai unter strengen Beschränkungen wieder durchgeführt werden sollen. Im Saarland durften die Menschen wie in den anderen Bundesländern ihre Wohnung nur mit einem “triftigen Grund” verlassen, wozu Einkäufe, Arztbesuche oder der Weg zur Arbeit gehörten. Man könne aus dem Vergleich der Infektions- und Sterberaten in den deutschen Bundesländern mit und ohne Ausgangsbeschränkung keinen Rückschluss auf die Wirksamkeit der Ausgangsbeschränkung ziehen, sagt der Verfassungsgerichtshof. Zudem müssen die Beschränkungen von Tag zu Tag auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft werden…” Artikel von Florian Rötzer vom 29. April 2020 bei telepolis - Schutzhaft in Pflegeheimen (Die Institutionen schweigen — Berichte von Whistleblowern machen Angst)
“Alle Bundesländer in Deutschland haben unterschiedlich scharfe Einschränkungen für Bewohner und deren Angehörigen von Pflegeheimenangeordnet. Wie auch die anderen Einschränkungen von Grundrechten werden ähnliche Maßnahmen in Pflegeheimen auch in anderen Staaten praktiziert, zum Beispiel in Portugal, wo ich mich derzeit aufhalte (…) Besonders die Älteren müssten als Risikogruppe in hohem Maße vor dem Virus geschützt werden. Mit diesem Anspruch aber, wörtlich genommen, werden die Alten zum passiven Objekt staatlicher Biopolitik, da ihnen die eigene Handlungskompetenz entzogen wird. Sie werden pauschal entmündigt. Die Alternative: Aufklärung der Risikogruppe und Unterstützung statt Entmündigung wird bisher kaum kommuniziert. (…) Sie denken kundenorientiert, suchen kundenorientierte Lösungen. Während Sie jedenfalls gerade so richtig in Fahrt kommen, die guten Ideen sprudeln, Sie recht zuversichtlich sind, dass Sie die Lage schon irgendwie meistern werden, erhalten Sie zwei Eil-Briefe vom Staat: Der erste Brief trägt den Titel: Verordnung zur Regelung von Neu- und Wiederaufnahmen in vollstationären Dauer- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen
. Sie lesen den Brief aufmerksam durch und bekommen einen Schreck! Wie sollen Sie derartige Forderungen umsetzen? Als ob es so einfach wäre, mal eben ” unverzüglich Isolations- und Quarantänebereiche in einer für die Bewohnerzahl angemessenen Größe vorzubereiten”. Sie haben Jahre daran gearbeitet, Ihren Pflegekräften beizubringen, die Zimmer als Zuhause, als Wohnung ihrer Bewohner zu sehen. Sie haben damit geworben, dass Ihre Kunden diese “Wohnungen” mit wenigstens ein paar vertrauten Gegenständen einzurichten können. Wie soll das gehen, plötzlich drei verschiedene getrennte Unterbringungs-Bereiche einzurichten ohne ganz massiv in das Wohnrecht ihrer Kunden einzudringen. Ist das überhaupt rechtlich möglich? Glücklicherweise finden Sie im zweiten Brief des Ministeriums
auch Auslegungshinweise. Darin, so hoffen Sie, finden Sie Hilfen, wie Sie die geforderten Maßnahmen in Ihrem Haus umsetzen können. Doch weit gefehlt, hier wird nur noch schärfer formuliert, welche Ergebnisse von Ihnen erwartet werden. Dass es die Verfasser in diesen Auslegungshinweisen im Zusammenhang mit dieser lagerartigen Vorgehensweise auch noch wagen, von unterschiedlichen Wohn-Bereichen zu sprechen, erleben Sie als nur noch zynisch. “Die Wohnung ist unverletzlich”, heißt es doch im Grundgesetz. Und Sie haben jedenfalls ihren Pflegekräften immer wieder eingeschärft, dass sie auch die Bewohnerzimmer in diesem Sinn als vom Grundrecht geschützte Wohnung ihrer Kunden ansehen müssen, z.B. diese nicht einfach betreten dürfen ohne das “Herein” nach dem Anklopfen. Genauso unmöglich erscheint es Ihnen, nun plötzlich drei verschiedene Teams, samt Nachtwachen, einzurichten. Woher sollen Sie die Mitarbeiter dazu nehmen? (…) Und nun sollen Sie Ihre schon an der Grenze des Zumutbaren arbeitenden Mitarbeiter auch noch verpflichten, bis zu 12 Stunden zu arbeiten? Und danach nur 9 Stunden Ruhepause zu haben? Notfalls, so wird ja auch schon diskutiert, sollen Sie ihr Team gar mit Zwangsarbeitern aufstocken? Während Sie noch verzweifelt nach Auswegen suchen aus diesem Horror, den Sie umsetzen sollen, erfahren Sie aus den Medien, dass in NRW nun ein totales Besuchsverbot für Pflegeheime eingeführt worden ist. (…) Alle meine ehemaligen Kollegen hüllen sich in Schweigen, sobald ich erwähne, dass ich einen Artikel zu dem Thema schreibe. Ich verurteile das nicht, ich kann es verstehen: Sie sind verzweifelt. Sie sollen Unmögliches zustande bringen und müssen nicht nur befürchten, mal wieder an den Pranger gestellt zu werden, sondern stehen auch mit einem Bein im Knast, egal was sie tun. Wenigstens erhalte ich einige Informationen von Whistleblowern. (…) Hier plant die Leitung eines Wohnheimes aus NRW, einfach alle mündigen erwachsenen Bewohner einer Behinderteneinrichtung einzusperren. Diese Absicht entspricht dem Straftatbestand der Freiheitsberaubung und wird nach StGB §239 mit Freiheitsstrafe, schon für den bloßen Versuch, von bis zu 5 Jahren Gefängnis geahndet. Sollte die Freiheitsberaubung länger als eine Woche andauern, beträgt die Strafe sogar mindestens ein Jahr bis zu 10 Jahren Haft. Im Verteiler dieser Mail sind zig weitere Einrichtungen, die ähnliches planen. Diese Information ist so brisant, dass ich die ganze damit zusammenhängende Korrespondenz vernichtet habe, damit ich auch im Fall einer Hausdurchsuchung den Quellenschutz garantieren kann. (…) Weiter wurde mir von einem anderen Heim z.B. berichtet, dass Praktikanten dort mit der regelrechten Jagd auf heimliche Treffen zwischen Heimbewohnern und Angehörigen beauftragt wurden. In diesem größeren Heim ist es den alten Menschen immer wieder gelungen, durch Nebeneingänge dem Ausgangsverbot zu entrinnen und sich in einer nahegelegenen Tiefgarage heimlich mit ihren Liebsten zu treffen. In anderen Häusern werden einfach alle dementen Bewohner in ihrem Zimmer eingesperrt, damit sie nicht unkontrolliert durch die verschiedenen Abschnitte laufen können. Ärzte werden bedrängt, höhere Dosen sedierender Medikamente zu verabreichen. Und vieles mehr. Es ist der reinste Horror! Alles zum Schutz der alten Menschen und alles, ohne sie zu fragen, welchen und wie viel Schutz sie überhaupt wollen.” (…) Die Lösung besteht schlicht darin, alle stationären Einrichtungen für erwachsene Pflegebedürftige und/oder behinderte Menschen komplett zu entinstitutionalisieren und konsequent in reine Wohnhäuser mit je einzelnen “Wohnungen” umzuwidmen. Es muss dann einfach nur eine strikte Trennung zwischen dem Wohnrecht der Bewohner solcher Häuser und deren Betreuung eingeführt werden. So, wie es jetzt bereits für eine zunehmende Zahl von “Seniorenwohngemeinschaften” der Fall ist und gut funktioniert. Die Betreuung und Pflege der Bewohner muss dann “ambulant” angeboten werden, genauso wie heute ein ambulanter Pflegedienst die Wohnungen der Pflegeleistungen nachfragenden Menschen auf- und nicht heimsucht…” Empfehlenswerter Artikel von Klaus Heck vom 23. April 2020 in telepolis
, siehe dazu:
- Ausgang für Risikogruppen: Kein Stubenarrest für Heimbewohner
“Heime gelten als ganz besonders gefährdet durch Corona. Einsperren dürfen sie ihre Bewohner trotzdem nicht, auch wenn einzelne das wohl versuchen. (…) Viele Heime und Wohngruppen bewegen sich da gerade auf schwankendem Grund. Wörtlich steht in der Verfügung des zuständigen Gesundheitsamtes, die wiederum auf den entsprechenden Weisungen des niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung beruht: „Die Betreiberinnen und Betreiber der o. g. Einrichtungen sind aufgefordert, die Bewohnerinnen und Bewohner anzuhalten, die Einrichtungen und das dazugehörige Außengelände nicht zu verlassen.“ Das ist deshalb so schwammig formuliert, weil viel mehr als Appelle rechtlich gar nicht drin sind: Denn natürlich gelten auch für Menschen in Heimen oder Einrichtungen des betreuten Wohnens die gleichen Freiheitsrechte wie für jeden anderen Menschen. Ein Haus- oder Zimmerarrest lässt sich nicht einfach so anordnen, schon gar nicht per Hausordnung. Das erklärt auch das Ministerium auf Nachfrage. Um Menschen einzuschließen, benötigt man immer noch einen richterlichen Beschluss oder eben eine Quarantäne-Anordnung des Gesundheitsamtes, die aber nur bei einer Infektion oder einem begründeten Verdachtsfall möglich und dann auch zeitlich befristet ist. (…) Als Einrichtung im Sinne dieses Erlassen gelten allerdings nicht nur Pflegeheime. Er betrifft auch Behinderte oder Einrichtungen zur Wiedereingliederung für psychisch Kranke. Und da wird es eben schwierig: „Es ist natürlich etwas komplett anderes, ob wir hier über schwer Pflegebedürftige reden oder über Menschen mit einer Beeinträchtigung, die möglicherweise auch noch einen hohen Bewegungsdrang haben“, sagt Holger Stolz, Geschäftsführer der Lebenshilfe Niedersachsen. Als einer der größten Träger in diesem Bereich steht die Lebenshilfe nun vor der Aufgabe, für jede einzelne Einrichtung nach handhabbaren Lösungen zu suchen…” Artikel von Nadine Conti vom 22.4.2020 in der taz online
- Ausgang für Risikogruppen: Kein Stubenarrest für Heimbewohner
- Wird die Corona-Krise zur Verfassungskrise? Kritische Anmerkungen zum Problemverständnis des Bundesverfassungsgerichts /Nachtrag: Die Harbarth-Kammer bleibt dabei: Statt zu entscheiden, lieber raushalten
“Seit den pandemiebedingten Eingriffen in verfassungsrechtlich garantierte Grundrechte wird viel über den Sinn und Zweck der ganzen Aktion debattiert, aber auch – z.B. bei Eingriffe in das durch Art. 8 Grundgesetz gewährleistete Versammlungs- und Demonstrationsrecht – vieles berechtigt kritisiert. (…) Den realen Ausnahmezustand als nicht “formell” zu bezeichnen, lässt sich entweder als Forderung auch an die für den Grundrechtsschutz verantwortlichen Gerichte interpretieren, diese auch zu verteidigen, oder als Versuch einer Rechtfertigung für Grundrechtseingriffe, die – zumindest teilweise – verfassungswidrig waren, weil sie sich aus dem Grundgesetz gar nicht ableiten lassen. Nicht bestreiten lässt sich wohl deren “grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung”, also genau das, was nach § 93a BVerfGG ureigenste Angelegenheit des höchsten deutschen Gerichts war und ist. Doch genau dieser zentralen Aufgabe kam das Bundesverfassungsgericht bisher nicht angemessen nach. Es versagt gerade in dem Augenblick, wo es auf eine Verteidigung von Grundrechten massiv ankommt. Die Neuartigkeit der Situation entschuldigt hier nichts. (…) Der Umgang der drei Kammern des Ersten Senats mit den Verfassungsbeschwerden anlässlich der extremen Eingriffe in Grundrechte, lässt sich wohl am zutreffensten als Versuch einer Abwiegelung verstehen. Nicht zufällig werden die für den Beschwerdeführer abschlägigen Entscheidungen auch mit der Befristung der Maßnahmen begründet. Man hofft – anders gesagt – auf ein baldiges Ende. Nur von was? Von eigentlich verfassungswidrigen Grundrechtseingriffen? Die Frage ist außerdem: Mit welcher Berechtigung wartet man überhaupt ab? Was ist, wenn das Verdrängen nicht funktioniert, weil es nach der Befristung munter so oder ähnlich weitergeht? (…) Es zeigt sich schon jetzt ein Problem, was in Zukunft bestimmt von zentraler Bedeutung sein wird: Gehören sozial- und wirtschaftspolitische Folgeerscheinungen der Pandemiemaßnahmen nicht auch zum “nicht formalen” Ausnahmezustand? Endet dieser mit der Abnahme der Infektionsgefahr oder setzt er sich bei den Folgemaßnahmen fort? Wie z.B. die pandemiebegründeten Eingriffe des Gesetzgebers in die langerkämpfte Begrenzung der Arbeitszeit zeigt (vgl. § 14 Abs. 1 ArbZG) ist diese Problematik bereits hoch aktuell und ungelöst; vor allem sind ja politische Versammlungen verboten (wie passend!)…” Anmerkungen von Armin Kammrad vom 14. April 2020– wir danken! Siehe aus aktuellem Anlaß den Nachtrag:
- Die Harbarth-Kammer bleibt dabei: Statt zu entscheiden, lieber raushalten
“Die Entscheidungen der 1.Kammer des Ersten Senats reißen nicht ab. Jedoch bleibt der Grundtenor immer gleich: Statt inhaltlicher Entscheidungen nur Kammerentscheidungen ausschließlich zum Rechtsweg, nicht zum Inhalt. So auch beim Kammer-Beschluss 1 BvR 828/20 vom 15. April 2020. bei dem es um Versammlungen unter dem Motto „Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen – Schutz vor Viren, nicht vor Menschen“ in Gießen ging. (…) Was die Frage betrifft, ob überhaupt diese Verbote verfassungswidrig sind, gibt die 1. Kammer indirekt allerdings schon eine Antwort – allerdings eine sehr fragwürdige. Heißt es doch in Pkt. 3 der Entscheidung: “Die Stadt Gießen erhält Gelegenheit, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Kammer nach pflichtgemäßem Ermessen erneut darüber zu entscheiden, ob die Durchführung der vorgenannten Versammlungen gemäß § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes von bestimmten Auflagen abhängig gemacht oder verboten wird.” Es war jedoch gerade nicht das Interesse des Beschwerdeführers der Stadt Gießen Gelegenheit zu geben, letztlich – nach erneuter Abwägung – sich doch für ein Verbot zu entscheiden, sondern dass ein solches Verbot grundsätzlich nicht verfassungsgemäß ist. (…) Wir sollten jedoch nicht nachlassen, dem Kammerverfahren ein Ende zu bereiten und endlich den Senat zu einer inhaltlichen Stellungsnahme zu zwingen, also zu dem, was die Kammern bisher gerade zu verhindern versuchen.” Kommentar von Armin Kammrad vom 17. April 2020
– wir danken für die schnelle Reaktion!
- Siehe Hintergrund auch unser Dossier: Von totalen Demonstrationsverboten, Klagen und Widersprüchen in Zeiten des Coronavirus
- Die Harbarth-Kammer bleibt dabei: Statt zu entscheiden, lieber raushalten
- Wilhelm Heitmeyer: “In der Krise wächst das Autoritäre”
“Verändert die Corona-Krise die Gesellschaft zum Guten?” Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer zweifelt im Interview von Christian Bangel am 13. April 2020 bei der Zeit onlineu.a. mit er Begründung: “… Corona ist ein Beschleuniger von sozialer Ungleichheit. Da sind einerseits die psychischen Beschädigungen, die das Virus hinterlässt und die erst nach der Aufhebung der Kontaktbeschränkungen sichtbar sein werden. Und es sieht so aus, als würde eine tiefreichende wirtschaftliche Rezession mit weitreichender Arbeitslosigkeit auf uns zukommen. Die Folgen dürften soziale Desintegrationen und Statusverluste sein, also weitere Kontrollverluste. (…) Es gibt (…) einen Zusammenhang zwischen Kontrollverlust und der Anfälligkeit für Verschwörungstheorien. Und da die Kontrollverluste dieser Tage nun wirklich breit gestreut sind, dürften sie größere Reichweite bekommen. Die Frage ist: Welchen sichtbaren Gruppen schiebt man die Schuld zu, wo der Virus doch unsichtbar ist? Man muss abwarten, welche Fantasien jetzt in Gang gesetzt werden. Im rechtsextremen Milieu ist schon einiges unterwegs. (…) Da reicht ein Blick auf die politische Landkarte. Die Kraft dieses neuen Nationalismus zeigt sich auch daran, dass die EU-Staaten unabhängig voneinander ihre Grenzen geschlossen haben. So eine Dynamik kommt zweifelhaften Vorreitern wie Orbán in Ungarn sehr gelegen. Er nutzt das jetzt zu einer fast uneingeschränkten Ausdehnung seiner Macht zur autoritären Kontrolle der Gesellschaft. Die EU finanziert eine formaldemokratisch verbrämte Diktatur in Europa. (…) Es ist zu befürchten, dass sich dieser autoritäre Nationalradikalismus – Rechtspopulismus ist völlig ein irreführender Begriff – in den Ländern des Ostens weiter verfestigt. Bevor man darüber hinweg geht, sollte man bedenken, dass Orbán auch ein Vorbild für die deutsche Version dieses autoritär-nationalen Radikalismus ist, also die AfD. (…) Es gibt ein rechtes Eskalationskontinuum, das aus fünf Elementen besteht. Es beginnt mit der Abwertung und Diskriminierung von Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit – also Juden, Muslime, Homosexuelle, Obdachlose, Flüchtlinge. Diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung schafft Legitimation für die AfD, die das politisch in Parolen verdichtet und auf die Tagesordnung hebt. Die AfD schafft ihrerseits wiederum Legitimationen für rechtsextreme Milieus, indem sie Begriffe wie “Umvolkung” oder “der große Austausch” in die Welt setzt und mit Untergangsfantasien operiert. Diese systemfeindlichen Milieus operieren zum Teil schon mit Gewalt und geben wieder Legitimationen an militante Zellen, die konspirativ operieren – Gruppen wie “Revolution Chemnitz” oder “Freital 360″. Die Gruppen werden immer kleiner und immer gewalttätiger, bis hin zu rechtsterroristischen Zellen oder Einzeltätern. (…) Solange sich da grundsätzlich nichts ändert, sehe ich auch keine sozialen Veränderungen kommen. Nach der Krise wird es doch eher ein brutales Aufholrennen für die verpassten Renditen geben. Dann dürften sehr schnell wieder umstandslos die Kriterien von Verwertbarkeit, Nützlichkeit und Effizienz gelten – nicht nur bei der Herstellung von Waschmaschinen, sondern auch in der Bewertung von Menschen. (…) In der Krise wächst das Autoritäre…”
- Vorläufige juristische Einschätzung der „Ausgangsbeschränkung“ in Bayern
“… Aufgrund der zahlreichen Anfragen zu diesem Thema haben wir uns entschlossen, eine kurze rechtliche Einschätzung abzugeben. Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass es sich um rechtliches Neuland handelt. Es handelt sich somit ausdrücklich nur um eine erste unverbindliche rechtliche Einschätzung. (…) Die Verordnung stützt sich auf § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 32 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG). (…) Es erscheint zumindest zweifelhaft, ob die Verordnung von der Rechtsgrundlage gedeckt ist. Der § 28 IfSG wurde kurz nach Erlass der ersten Ausgangsbeschränkungen im Eilverfahren geändert, offenbar mit dem Zweck, Ausgangsbeschränkungen auf die Vorschrift stützen zu können. Unsere Strafrechtsabteilung hat allerdings weiterhin erhebliche Zweifel daran, ob Ausgangsbeschränkungen auf diese Vorschrift gestützt werden können. Für die Bußgelder, die in den ersten Tagen der Ausgangsbeschränkung verhängt wurden, heißt dies, dass diese mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrig sind.(…) Wir weisen hier ausdrücklich darauf hin, dass wir dazu raten, sich an die Regelungen der Verordnung zu halten. Wir wollen an dieser Stelle nur für den Fall entstandener Schäden oder verhängter Bußgelder dafür sensibilisieren, dass es sich lohnt, Maßnahmen nach dieser Verordnung einer rechtlichen Prüfung zu unterziehen. (…) Fazit: Die Ausgangsbeschränkung erscheint medizinisch notwendig. Zweifelhaft ist, ob sie auf der Grundlage des IfSG überhaupt zulässig ist. Die Ausgangsbeschränkung lässt genug Ausnahmen zu, dass sämtliche notwendige und unaufschiebbare Anliegen weiterhin dazu berechtigen, die Wohnung zu verlassen. Bei Straf- oder Bußgeldverfahren sollte in jedem Fall rechtlicher Rat eingeholt werden…” Juristische Einschätzung der Münchner Kanzlei Wächtler und Kollegen vom 6. April 2020– wir danken der Roten Hilfe München für den Hinweis
- Balkonkonzert-Verbot in Sachsen-Anhalt /Absurde Polizeibefugnisse aufgrund von angeblichem Infektionsschutz …
- Balkonkonzert-Verbot in Sachsen-Anhalt
“Balkonkonzerte sorgten in Wernigerode für kleine Freuden in der Corona-Krise. Nun werde sie verboten, was im Harz für Unverständnis sorgt. Balkonkonzerte sind in Sachsen-Anhalt bis auf Weiteres verboten. Diese Konzerte würden dem geltenden Veranstaltungsverbot unterliegen. Das habe das Landesverwaltungsamt der Stadt Wernigerode mitgeteilt, informiert Rathaussprecher Tobias Kascha. „Wir haben uns sofort mit dem Philharmonischen Kammerorchester und der Gebäude- und Wohnungsbaugesellschaft in Verbindung gesetzt.“ Dort wurden Konzerte für die nächsten Tage vorbereitet. „Das ist sehr schade“, so Kascha. Die Auftritte der Musiker seien eine Möglichkeit, um Leuten in Zeiten von Corona Freude zu bringen. Zumal dabei bislang die Abstandsregeln eingehalten wurden. Die Zuschauer hätten die Musik lediglich von ihren Fenstern oder Balkonen aus verfolgt. Oder die Musiker standen beispielsweise vor Seniorenheimen auf Grünflächen und spielten für die Bewohner, die die Heime wegen der Corona-Pandemie nicht verlassen dürfen. „Wir finden die Anweisung des Landes ein Stück weit überzogen. Aber wir müssen sie akzeptieren“, so Kascha. (…) Nachdem das generelle Verbot von Balkonkonzerten in einigen Kommunen für Unverständnis gesorgt hat, rudert das Landesverwaltungsamt nun ein wenig zurück. „Grundsätzlich ist es nicht verboten, Musik zu machen“, heißt es auf Nachfrage von Sprecherin Denise Vopel. „Das ist erst verboten, wenn daraus eine Veranstaltung wird.“ Was bei Menschenansammlungen der Fall sei. Zudem müsse das jeweilige Gesundheitsamt prüfen, ob die Sicherheitsbestimmungen eingehalten werden können...” Artikel “Harzer enttäuscht über Balkonkonzert-Verbot” von Ivonne Sielaff und Sandra Reulecke vom 11.04.2020 in volksstimme.de - Absurde Polizeibefugnisse aufgrund von angeblichem Infektionsschutz
“Kritische Wissenschaftler berichten von weiteren Vorfällen und stellen sich der Aushöhlung der Versammlungsfreiheit entgegen. Als Clemens Arzt am vergangenen Sonntag durch Berlin-Kreuzberg spazierte, fuhr eine kleine Autokolonne an ihm vorbei, an der Plakate mit politischen Botschaften in Solidarität mit Flüchtlingen hingen. “Die werden bald gestoppt”, dachte sich der Jurist. Die Analyse des staatlichen Umgangs mit politischem Protest und Grundrechten ist derzeit ein besonders großer Schwerpunkt in der täglichen Arbeit von Arzt, er ist nämlich Professor für Staats- und Verwaltungsrecht mit dem Schwerpunkt Polizei- und Ordnungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin. Wenig später musste Arzt feststellen, dass der kleine Autokorso tatsächlich von der Polizei angehalten worden war. Die sperrte dafür beide Fahrspuren Richtung Zentrum der Skalitzer Straße, einer der Hauptstraßen Kreuzbergs. Die Leute in den Autos hätten alle irgendeine Form von Gesichtsverhüllung getragen, erzählt Arzt, aber dagegen sei die Polizei nicht vorgegangen. Grund für die Polizeiaktion war, dass das Herumfahren politischer Botschaften als Versammlung angesehen wurde – und die Versammlungsfreiheit ist derzeit nicht nur in Berlin mehr oder weniger wegen des Infektionsschutzes ausgesetzt. (…) Zu Solidaritätsaktionen wie dieser hatte das Bündnis Seebrücke aufgerufen. So wurden am Sonntag in mehreren Städten laut Berichten mit dem üblichen pandemiebedingten Sicherheitsabstand und mit Vermummung Botschaften hochgehalten oder mit Farbe und Schuhen Fußabdrücke aufs Straßenpflaster gedrückt, um an die in Griechenland und an der griechischen Grenze in unhaltbaren Zuständen lebenden Flüchtlinge zu erinnern. Oft ging die Polizei massiv dagegen vor, auch wenn offensichtlich keinerlei Gefahr von den Protestierenden ausging, etwa in Frankfurt. Die Taz berichtete in ihrer Regionalausgabe Nord vom Dienstag, dass es in Hamburg am Wochenende an mehreren Stellen zu Platzverweisen und Bußgeldern wegen solcher Aktionen gekommen sei. Demzufolge wurde am Sonntag eine Person in Gewahrsam genommen, weil sie sich nicht ausweisen wollte. Wer den Protest dokumentieren wollte, wurde von der Polizei nicht nur in Hamburg körperlich angegangen, sondern auch in Frankfurt. In Berlin mussten Presseleute am Rand einer Protestaktion ihre Personalien angeben. In Weinheim bei Mannheim wurde ein Mensch zu Hause festgenommen und sämtlicher Datenträger beraubt, weil er im Internet zu “einem friedlichen Protestmarsch gegen Ausgangsbeschränkungen” aufgerufen haben soll, wie der SWR berichtet. (…) Verwunderlich ist all dieses Jagen von Leuten, die in kleiner Zahl mit Plakaten auf Autos oder Fahrrädern herumfahren oder schlicht im Park rumsitzen, schon allein angesichts der Tatsache, dass seit Jahren über den Berg an Überstunden geklagt wird, der bei der Polizei bundesweit angefallen ist. Vor allem aber sind diese Befugnisse und die verhängten Repressalien – vom Platzverweis bis zur Geldbuße – absurd. Absurd wäre auch der Versuch, die Versammlungs- und Aufenthaltsverbote flächendeckend durchzusetzen, wenn sich viele Menschen ihnen widersetzen würden. Am 28. März zeigten angeblich 200 Menschen (mit Sicherheitsabstand) am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg, wie das geht , und wieviel Mühe die Polizei hat, so eine Demo zu zerschlagen. Zudem steht der 1. Mai vor einer Repolitisierung, zumindest in Berlin und Hamburg. Nachdem in Berlin die Zahl der Teilnehmenden an der traditionellen revolutionären Demo in den letzten Jahren rückläufig war und auch so manche antikapitalistische Gruppe nicht mehr dafür mobilisierte, ruft nun der Demo-Vorbereitungskreis dazu auf, sich die Veranstaltung nicht verbieten zu lassen und jetzt schon darüber zu diskutieren, was unter Berücksichtigung des Infektionsschutzes an dem Tag getan werden kann. Da in den nächsten Wochen vermutlich die lange von der Bundesregierung und ihren Fachleuten vertretene Position, ein Mundschutz bringe nichts gegen Corona, aufgegeben werden wird (in Frankreich deutet sich das ebenfalls an), darf schon mal darauf gewettet werden, ob es am 1. Mai einen neuen Vermummungsrekord geben wird.” Beitrag von Ralf Hutten vom 10. April 2020 bei Telepolis - [Strategiepapier] Brisante Informationen – Veröffentlicht die Dokumente!
“Das Bundesinnenministerium hat vorige Woche ein vertrauliches Strategiepapier zum Umgang mit der Corona-Pandemie herausgegeben. Na gut, offiziell herausgegeben hat es das Papier nicht, offiziell ist es ja vertraulich. Trotzdem lag es dem „Spiegel“ vor. Und dem Recherchenetzwerk von „Süddeutscher Zeitung“ (SZ), NDR und WDR. Und der „taz“. Und womöglich noch anderen. Alle Medien zitieren aus dem 17-seitigen Papier und beleuchten unterschiedliche Aspekte daraus. (…) Aber warum eigentlich nicht die anderen? Besonders vertraulich ist das Dokument ja ohnehin nicht mehr, wenn es durch so viele Hände gegangen und in (verschiedenen) Auszügen veröffentlicht ist. Die Antworten auf diese Frage haben mit einem spezifischen und einem generellen Problem in Bezug auf Transparenz im deutschen Journalismus zu tun. (…) Die erste Antwort ist naheliegend: Journalist*innen müssen ihre Quellen schützen, um sie gerade bei der Herausgabe brisanter Informationen nicht in Gefahr zu bringen, auch um weiterhin mit ihnen zusammenzuarbeiten. Scans von Dokumenten zu veröffentlichen, könnte im Extremfall tatsächlich Quellen verraten, etwa wenn anhand unbereinigter Metadaten oder anderer Spuren erkennbar ist, auf welchem Rechner der Scan entstanden ist. Allerdings kann man Metadaten auch entfernen oder einfach nur den Text aus einem Dokument veröffentlichen. (…) Die zweite Antwort hängt mit einem Problem im deutschen Journalismus zusammen, das auch bei weniger brisanten Dokumenten auftritt: Die meisten Medien in Deutschland gefallen sich darin, zu schreiben, ihnen liege ein Dokument exklusiv vor – als sei das eine Auszeichnung. Aber Exklusivität suggeriert natürlich Schnelligkeit und einen guten Draht in die Politik oder in Behörden, mit dem sich Medien schmücken können. (…) Einige Medien machen es anders. So zeichnet sich etwa „netzpolitik.org“ dadurch aus, über Dokumente nicht nur zu berichten, sondern sie auch zu veröffentlichen. Auch „Buzzfeed News“ wirbt damit, regelmäßig Originaldokumente zugänglich zu machen, um Leser*innen die Chance zu geben, tiefer in Themen einzusteigen. „So können andere Menschen noch Dinge entdecken, die uns nicht aufgefallen sind“, sagt Chefredakteur Daniel Drepper. „Manchmal entstehen so weitere Recherchen bei uns – oder in anderen Medien.“ (…) Dabei sollten Journalist*innen von ihren Redaktionen ermutigt werden, Primärquellen zu veröffentlichen. Würden sie dazu übergehen, Dokumente standardmäßig ins Internet zu stellen, würde das den Journalismus besser machen. Das bestätigen zumindest exklusive Dokumente, die uns vorliegen. Sind aber leider streng geheim.” Kommentar von Arne Semsrott vom 6. April 2020 bei Übermedien - Abschied vom Grundgesetz?
“Zur Eindämmung der Corona-Pandemie hat die Bundesregierung strikte Maßnahmen angeordnet und Bürgerrechte eingeschränkt. Renommierte Verfassungs- und Staatsrechtler schlagen Alarm.” 3‑Sat-Kulturzeit-Sendung vom 06.04.2020
- Balkonkonzert-Verbot in Sachsen-Anhalt
- Dämmen und dämmern /Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der Corona-Pandemie
- Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der Corona-Pandemie
“Wir beklagen zurzeit Grundrechtseingriffe ungeahnten Ausmaßes. Wir müssen aber noch etwas beklagen, nämlich einen ziemlich flächendeckenden Ausfall rechtsstaatlicher Argumentationsstandards. Zwar betonen die Entscheider, die momentan mit Rechtsverordnungen Grundrechte suspendieren, immer wieder, wie schwer ihnen dies falle. Dem rechtlich wie ethisch gebotenen Umgang mit den Grundrechten wird die momentane Rechtfertigungsrhetorik jedoch nicht gerecht. Grundrechte können nur unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden. Der Eingriff unterliegt einem Rationalitätstest anhand von faktenorientierten Maßstäben und einer Verantwortbarkeitskontrolle orientiert an normativen Maßstäben. Zunächst geht es um Faktenfragen: Es darf vor allem kein milderes Mittel geben. Können die gewählten Mittel das Ziel, dem der Eingriff dient, überhaupt fördern? Sind weniger invasive Mittel denkbar? Um diese Fragen zu beurteilen, muss man wissen, auf welche Bedrohung reagiert wird. Sodann dürfen die für dieses Ziel eingesetzten Mittel andere Rechtsgüter nicht unangemessen verkürzen. Jetzt geht es um eine normative Frage. Das rechtsstaatliche Rechtfertigungsprogramm von Grundrechtseingriffen operiert mit einigen Grundkategorien: Schutzgüter, Eingriffsintensität, mildere Mittel, Kausalität und Zurechnung. Die mit diesen Kategorien verbundenen Denkvorgänge finden momentan ganz weitgehend nicht statt. Wenn wir momentan einen „Ausnahmezustand“ erleben, dann ist es ein Ausnahmezustand im juristischen Denken. (…) Wir stehen vor Hygienemaßnahmen ganz anderer Art: Der Rechtsstaat ist schwer beschmutzt. Die rechtsstaatliche Hygiene muss dringend wieder hergestellt werden, sonst droht hier das größte Infektionsrisiko.” Beitrag von Oliver Lepsius vom 6. April 2020 beim Verfassungsblog– Zu diesem “Ausnahmezustand im juristischen Denken” gibt es ein sehr bezeichnendes und trauriges Beispiel, was leider kaum registriert wird. Wieder einmal ist es die Harbarth-Kammer beim BVerfG, die es ablehnt eine VB dazu überhaupt zur Entscheidung anzunehmen…
- Dämmen und dämmern
“… Auch wenn der Ursprung des Corona-Virus nicht vollkommen geklärt ist – die Bedingungen seiner Verbreitung sind bestimmt von globaler Warenzirkulation, seine Auswirkungen vom Grad wohlfahrtsstaatlicher Fürsorge oder ihrer Unterlassung. Ist also der Kapitalismus schuld? Nicht am Virus. Aber zweifellos verschlimmert die Tatsache, dass das Virus nicht nur auf eine wirtschaftlich globalisierte, sondern auf eine neoliberal heruntergewirtschaftete Gesellschaft trifft, seine Folgen. (…) Die autoritäre Seite des Neoliberalismus tritt in Krisenzeiten besonders stark hervor. Ein erster Höhepunkt dieser Entwicklung war die Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG), die ohne ernstzunehmende Debatte am 25. März vom Bundestag beschlossen wurde. (…) Auch wenn nicht bestritten werden soll, dass umfassende Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie ergriffen werden müssen, ist es erschreckend zu beobachten, mit welch atemberaubender Geschwindigkeit sich die bundesrepublikanische Gesellschaft fast ohne Gegenwehr dem Staat als übergeordnetem Hüter des Lebens unterwirft. Kommunen verhängen hohe Bußgelder, regelmäßig wird auf die Möglichkeit der Freiheitsstrafe verwiesen; Denunziation hat Konjunktur. Wer sonst seine Freiheit durch „Veggie-Day“ und „Dieselverbot“ bedroht sieht, geifert nun gegen vermeintliche „Corona-Partys“. Der drohende Einsatz der Bundeswehr im Innern – 15.000 Mann stehen bereit, über 6.000 für Sicherungs- und Ordnungsaufgaben, Waffeneinsatz nicht ausgeschlossen – wurde achselzuckend zur Kenntnis genommen. (…) Nach der Krise soll es weitergehen wie zuvor. Dafür sorgen zur Not all die Sicherheitsgesetze, die Bund und Länder in den vergangenen Jahren auf den Weg gebracht haben – bei Bedarf erweitert um Befugnisse, wie sie jetzt beim Shutdown zur Anwendung kommen. Damit die Welt aber nach Corona nicht noch lebensfeindlicher wird, als sie bereits ist, muss die Linke ihre Kritik verstärken. Das verordnete Zuhausebleiben darf nicht zum individuellen Beitrag einer allgemeinen Eindämmerung, zu einem biedermeierlichen Rückzug ins Private werden.” Artikel von Christian Meyer aus konkret Ausgabe 3/2020 - Wie lange noch?
“…Vor einem Jahr haben wir gefeiert und die Grundrechte gepriesen. Wir haben uns, zum siebzigsten Jubiläum des Grundgesetzes, an dessen Mütter und Väter erinnert – an wunderbare Demokraten wie Elisabeth Selbert und Carlo Schmid, an Widerstandskämpfer gegen Hitler wie Hermann Lous Brill und Jakob Kaiser. Als sie die Grundrechte formuliert haben, lag Deutschland in Trümmern, in Schutt und Elend. Der Katalog mit den Grundrechten entstand in einer Welt voller Unsicherheit. Hunderttausende “displaced persons” zogen damals durchs Land, ansteckende Krankheiten grassierten. Die Grundrechte sollten Sicherheit geben in einer Welt der Unsicherheit. 71 Jahre später, in der Corona-Krise, soll nun die Aussetzung dieser Grundrechte Sicherheit geben. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik sind sie so flächendeckend, so umfassend und so radikal eingeschränkt worden. Die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger werden, wegen Corona, auf vorerst unabsehbare Zeit in bisher unvorstellbarer Weise beschnitten und aufgehoben – ohne großen gesetzgeberischen Aufwand, mit einem Fingerschnippen der Exekutive quasi. Es wurde eine Stimmung geschaffen, in der sich Menschenrechte und Menschenleben gegenüberstehen und die amtlich verordnete Aussetzung von Menschen- und Bürgerrechten als Preis für die Rettung von Menschenleben gilt. (…) Die Grundrechtseingriffe im Corona-Jahr 2020 sind extremer, als man es in den sechziger Jahren befürchtete, als gegen die Notstandsgesetze demonstriert wurde…” Politische Wochenvorschau von Heribert Prantl vom 5. April 2020 in der Süddeutschen Zeitung online
- Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der Corona-Pandemie
- Überblick zum Bevölkerungsschutzgesetz /Nachruf auf das Grundgesetz
- Documentation: Bagatellen einer Zeitenwende
“Der neue Verordnungsstaat war gerade im Anrollen und die offiziellen Dementis kündigten die Aktion an. Keine Ausgangsperre, hieß Ausgangsperre morgen oder übermorgen. Wir schließen die Bars nicht, nämlich erst ab Dienstag, hieß dann, wir schließen sie heute, also am Samstag den 14.3.2020. Da das Gerücht schon rumging, ab in die Kneipe. Irgendwann kommt die Ordnungsmacht. Ohne Dekret, nur mit einem völlig unspezifischen Auszug aus dem Seuchengesetz und mit der Anordnung, innerhalb einer Stunde, den Laden zu räumen. So begann hier die sanfte Quarantäne. Die Tage drauf wurde eine umfangreiche Kontaktsperre verhängt, die Gesellschaft in den Gips gelegt, also spricht man einer Freundin gegenüber von Diktatur. Erstauntes Gesicht und ironiefreie Antwort: „Aber wir dürfen doch noch zu zweit spazieren gehen.“ (…) Die Wirkungen des verschärften Hausarrest konnte man jüngst an den Bildern von Julian Assange beobachten, der wie ein Höhlenmensch aus der unfreiwilligen Quarantäne gekrochen kam, als er – Ecuador ist eingeknickt – dann doch den Ungeheuern übergeben wurde. Aber dies Schicksal wird in dieser Härte nur einige treffen. Daher soll man einschränken. Übertreibungen sind heuer nicht gewünscht und selbst Provophilosoph Zizek fordert eine differenzierte Sprache ein: Die meisten werden ihr Leben weiter leben dürfen, wie sie es kennen. Sie haben es in Grundzügen schon vorher so gelebt. Und spazieren dürfen wir ja noch. (…) Wie lange der gegenwärtige Drill der Bevölkerung, Stresstest der Vereinzelten und die große Polizeiübung dauern werden, ist unklar. Die Unklarheit ist Teil der Probe. Indem inzwischen die italienische Gesundheitsbehörde den größten Unfug eingestehen muss und auch die Propaganda der Chinesen zu Wuhan durch differenziertere Untersuchungen relativiert wird und also vieles dafür spricht, dass die Epidemie bald für beendigt erklärt wird, könnte auch diese erste Übung bald enden. Aber nicht zu bald. Und die Spuren werden tief sein. Zumal ein Drill den nächsten will.” Beitrag von Cli Ché vom 3. April 2020 bei non.copyriot.com - Blankoscheck im Krisenfall? Ein Überblick zum Bevölkerungsschutzgesetz
“Die uneinheitlichen Herangehensweisen der Bundesländer an die Bewältigung der Corona-Krise und ihrer Folgen haben im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) den Gedanken nach einer zentralen Steuerung künftiger Ansätze zur Abwehr epidemiologischer Gefahrensituationen reifen lassen. Mit dem im Hauruck-Modus vom Regierungskabinett verabschiedeten Bevölkerungsschutzgesetz werden dem BMG politische Vollmachten in beispiellosen Umfang eingeräumt. (…) Angesichts des Umfangs und der Regelungstiefe dieses Gesetzes und der sich aus ihm ergebenden Kompetenzen zum Erlass von notfallbedingten Verordnungen wird die Zeit, in der die epidemische Notfalllage nationaler Tragweite in Deutschland gilt, in jeder Hinsicht neue Erfahrungen bringen: sowohl, was die Effektivität und Koordinationsfähigkeit der Bundesmaßnahmen zur Bekämpfung einer nie dagewesenen gesundheitsbezogenen Gefahrenlage angeht, als auch, was das zu erhoffende Augenmaß und den notwendigen umsichtigen Umgang seitens des BMG mit einer derartigen Kompetenzfülle betrifft.” DGB-Bewertung vom 30. März 2020
Nachruf auf das Grundgesetz
“Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger, mit Fassungslosigkeit und Trauer müssen wir Ihnen leider mitteilen, daß das Grundgesetz gestern Nacht im Zusammenhang mit der Corona-Krise von uns gegangen ist. Wie Sie alle wissen, gehörte das Grundgesetz in seinem Alter von 71 Jahren zur Hauptrisikogruppe und hatte bestimmte Vorerkrankungen durch operative Eingrif-fe, die an ihm jahrzehntelang immer wieder vorgenommen wurden. Wir müssen Ihnen leider mitteilen, daß ein großes, dem Grundgesetz würdiges Staatsbegräbnis leider wegen der Infektionsgefahr nicht möglich ist. Beim nichtöf-fentlichen Staatsakt werden die letzten verbliebenen Grundrechte, die der gegen-wärtigen Krisensituation bereits angepaßt wurden, verlesen. Dabei handelt es sich um Folgende:
Art.1: Die Würde des Menschen ist auf unbestimmte Zeit antastbar.
Art.2 Markus Söder hat unbegrenzt das Recht auf die freie Entfaltung seiner Per-sönlichkeit.
Art.3 Abs. 1: Alle Menschen sind in Zeiten des Corona-Virus dem Grundgesetz gleich. Abs.3 Abs.2: Jeder darf wegen seiner Armut und seiner Rasse durch die Folgen des Corona-Virus so benachteiligt werden, daß er verhungert oder erfriert.
Art.4: Die Freiheit des Glaubens an die deutsche Wirtschaft bleibt unverletzlich.
Art. 5: Jeder Unternehmer hat das Recht, seine Meinung über die völlig unzu-reichende finanzielle Unterstützung durch den Staat täglich mehrfach zu äußern in Wort, Schrift und in der Bild.
Art. 12: Alle Deutschen haben schon vor der Ansteckung mit dem Corona-Virus das Recht, sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen, ehe Ihre jetzige Firma in Konkurs geht.
Art. 13: Eine Wohnung ist nicht unverletzlich, wenn der Vermieter nach der An-steckung durch den Spekulationsvirus sein Mietshaus leermachen will.” Aus: Deutscher Einheit(z)-Textdienst 4/20
- Documentation: Bagatellen einer Zeitenwende
- Leak der Corona-Strategie des Innenministeriums /Die Regierung ermächtigt sich in der Corona-Krise selbst – zulässig ist das nicht /Ausnahmezustand: Operation gelungen, Patient unfrei
- [Leak] Corona-Strategie des Innenministeriums: Wer Gefahr abwenden will, muss sie kennen
“Seit einer Woche berichten deutsche Medien über ein Strategiepapier des Bundesinnenministeriums, das den Umgang der Bundesregierung mit der Corona-Pandemie vorzeichnen soll. Bisher hat das Ministerium das Dokument nicht herausgegeben. Wir dokumentieren es hier…” Strategiepapier bei FragDenStaat am 1. April 2020 - Die Regierung ermächtigt sich in der Corona-Krise selbst – zulässig ist das nicht
“Wir müssen die Verfassung schützen. Auch in diesen Zeiten. Es geht um die schwersten Grundrechtseingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Ermächtigung der Regierung zum Erlass von Rechtsverordnungen ist ein Problem, ein ernsthaftes. Denn auch in diesen Zeiten müssen wir die Verfassung schützen. Wo sind eigentlich die Abgeordneten? Wer hält die Flagge des Rechtsstaats hoch? Wer kämpft für die Einhaltung der Grundrechte? Wo ist eigentlich die Justizministerin? Nach den schlimmen Erfahrungen mit diesem Rechtsinstitut der Verordnungen in der Weimarer Republik dürfen sie nur nach Maßgabe des Artikel 80 im Grundgesetz erlassen werden. Danach müssen „Inhalt, Zweck und Ausmaß“ der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden. Das ist nicht hinreichend der Fall...” Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff vom 1.4.2020 beim Tagesspiegel online - Ausnahmezustand: Operation gelungen, Patient unfrei
“Im Kampf gegen das Virus werden Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt – für die Sicherheit. Es gilt zu hinterfragen: Sicherheit – für wen? Und wie lange? (…) Bedarf es tatsächlich der Verordnung eines disziplinierenden Notstandes bis hin zur lückenlosen Überwachung von Personen über ihre Smartphones? Oder braucht es nicht eher eine Aufklärungsoffensive, die partizipatives Handeln fördert und den solidarischen Beistand für alle organisiert, die von der Krise betroffen sind? Für die Erkrankten ebenso wie für die Millionen von Menschen, die nun in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind? Autoritäre Reaktionen wie Grenzschließungen, die sich auf eine öffentlichkeitswirksame Zurschaustellung von staatlicher Macht stützen, können in Krisenzeiten höchst attraktiv erscheinen. Doch in aller Regel ist es das – viel weniger auffällige – soziale Engagement von Sozialverbänden, Wohlfahrtsorganisationen und spontan entstehenden Initiativen, das für die Senkung von Infektionsraten sorgt. Das gilt auch in Zeiten von Social Distancing. Viele, die in den zurückliegenden Jahren den zu uns Geflohenen Beistand geleistet haben, tun es heute für ältere Menschen, die nicht mehr das Haus verlassen sollen. Die Einschränkung persönlicher Freiheiten, die in Krisenzeiten mitunter unausweichlich erscheint, darf niemals das solidarische Handeln beschränken. Wer sich nicht der Logik des Ausnahmezustandes ergeben will, muss für die Idee einer offenen Gemeinschaft freier Menschen streiten. Dazu bedarf es nicht zuletzt eines kritischen Verständnisses von Recht und Sicherheit. Gerade in Krisenzeiten, wenn das Bemühen um Sicherheit Hochkonjunktur hat, ist das vonnöten. Wer wäre in unsicheren Zeiten nicht für Sicherheit? Die Sache aber ist komplizierter. (…) Das, was als Bedrohung empfunden wird, ist immer subjektiv gefärbt, emotional hoch aufgeladen und vage. Eben diese Unbestimmtheit macht Krisensituationen anfällig für Instrumentalisierungen und Verschwörungsphantasien. (…) Wenn sich Solidarität auf den Appell an eine vermeintliche Volksgemeinschaft reduziert, die nun geschlossen den einen Gegner zu bekämpfen habe, können gesellschaftliche Widersprüche nicht mehr demokratisch verhandelt werden und wird schließlich auch die Rechtsstaatlichkeit Zug um Zug ausgehöhlt. Wo die Sicherheit bedroht sei, müssten die Rechte der Menschen zurückstehen, verlangen es die Regierenden mitunter. Rechte sind aber nicht etwas, das man nach Belieben aus- und anschalten kann. Die Gefahr temporär außer Kraft gesetzter Rechte ist, dass sie dauerhaft verloren gehen. Gerade deshalb muss in Zeiten, die nach Sicherheit rufen, das Recht verteidigt werden. Allein das Beharren auf das Recht kann schließlich verhindern, dass der Ausnahmezustand zur Normalität wird.” Kommentar von Thomas Gebauer vom 26. März 2020 beim medico-Blog(Beitrag erschien auch am 26.März bei ‘der Freitag’)
- [Leak] Corona-Strategie des Innenministeriums: Wer Gefahr abwenden will, muss sie kennen
- COVID-19: Eine günstige Gelegenheit für autoritäre Staaten /Der Rechtsstaat leidet unter Corona /Bürgerrechte in der Krisenzeit: Viele Stimmen müssen einbezogen werden /Der aufkommende Pandemie Faschismus
- COVID-19: Eine günstige Gelegenheit für autoritäre Staaten
“COVID-19 – eine Krise, die die ganze Welt in Atem hält. Gerade in diesen Zeiten ist eine transparente Berichterstattung über Ausbreitung und Verlauf des Virus sowie genaue Opferzahlen wichtiger denn je, nicht unerwartet bedienen sich allerdings einige autoritäre Staaten lieber der Unterdrückung und Zensur. (…) Fakt ist, die Zensur hat System. Um das wahre Ausmaß der Pandemie und die damit einhergehende eigene Überforderung und Hilflosigkeit nicht zugeben zu müssen, werden in verschiedenen autoritären Staaten Vorwürfe erfunden und damit dann rigoros gegen Journalist*innen und Whistleblower vorgegangen. Oder, um eine Person des iranischen Geheimdienstes zu zitieren: „Das Land ist im Krieg und diese Informationen zu veröffentlichen kommt Kollaboration mit dem Feind gleich.“ Doch das ist ein Problem für die effektive Eindämmung der Pandemie. Journalist*innen und Whistleblower wie Dr. Li Wenliang müssen gehört werden. Die Universität Southampton, hat in Analysen festgestellte, dass die Zahl der Infizierten in China bei einer deutlich früheren Berichterstattung um 86 Prozent hätte gesenkt werden können. Die Berichterstattung darf nicht an Staatsgrenzen zum Stillstand kommen! Krisenbewältigung darf – nirgendwo auf der Welt – zur Beschränkung von Meinungs- und Pressefreiheit genutzt werden…” Artikel von Rieke Scholle vom 31. März 2020 im Whistleblower-Netzwerk - Der Rechtsstaat leidet unter Corona: Mit Ausgangssperren, Verweilverboten und Handydatensammlungen soll Covid-19 bekämpft werden. Doch manche Pläne führen zu gefährlicher staatlicher Willkür und Überwachung
“Bis vor wenigen Wochen konnten sich wohl die wenigsten vorstellen, dass in Deutschland schon bald Lautsprecherwagen durch die Straßen fahren und die Menschen dazu auffordern würden, das Haus nicht zu verlassen. Oder dass Straßensperren errichtet würden, um Autofahrer anzuhalten, deren Pkw das “falsche” Kennzeichen haben. Solche Bilder kannte man aus Staaten, die einen Putsch erleben, oder aus dystopischen Filmen. Seit das Coronavirus in Deutschland grassiert, sind sie jedoch auch hierzulande zu sehen – im Englischen Garten in München genauso wie an der Bundesstraße 109 zwischen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Es soll nicht darum gehen, Ausgangssperren grundsätzlich abzulehnen oder zum Widerstand gegen Maßnahmen aufzurufen, die gegen eine Pandemie nutzen können. Körperliche Distanz hilft, das Verbreiten solcher Viren wie Corona einzudämmen. Doch bei allem Respekt vor der schwierigen Aufgabe, die Corona-Krise politisch zu meistern, ist längst eine Debatte über einige dieser Erlasse und Verordnungen angebracht. Denn ein Teil der Maßnahmen, die in jüngster Zeit im Kampf gegen das Coronavirus erlassen wurden, geht viel zu weit, ist rechtlich unscharf und teilweise vermutlich sogar illegal. (…) In der derzeit schwierigen Lage erhalte die Polizei neue Befugnisse, die jetzt nicht ordentlich geprüft und später nie evaluiert würden. Seien sie aber einmal installiert, würden sie künftig auch auf andere Situationen und Tatbestände ausgeweitet. (…) Eine Gesellschaft brauche feste rechtliche Gerüste, sagt Staatsrechtler Arzt. Man dürfe nicht einfach per Verordnung Grundrechte aushebeln. Genau das aber geschehe beispielsweise mit dem gerade schnell durch den Bundestag gewunkenen Infektionsschutzgesetz, sagt Arzt: Teile davon “stinken rechtlich zum Himmel”. Artikel von Kai Biermann vom 30. März 2020 in der Zeit online - Bürgerrechte in der Krisenzeit: Viele Stimmen müssen einbezogen werden
Britta Rabe und Michèle Winkler vom Grundrechtekomitee sehen im Gespräch mit Sebastian Bähr vom 29.März 2020 in neues Deutschland onlinestaatliche Maßnahmen gegen Coronakrise u.a. aus folgenden Gründen kritisch: “… Die Ausgangsbedingungen, auf deren Grundlage jetzt agiert wird, sollten nicht in Vergessenheit geraten. Das neoliberal kaputt gesparte Gesundheits- und Pflegewesen, der riesige Sektor prekär Beschäftigter, das Fehlen bezahlbaren Wohnraums – das alles basiert auf Regierungsentscheidungen derjenigen, die jetzt handeln müssen. (…) Menschen in prekären Lebensverhältnissen sind in jeder Hinsicht ungleich mehr betroffen, denn Gesundheit und Armut sind engstens miteinander verknüpft. (…) Da es kaum Möglichkeiten gibt, sich in Gefängnissen und geschlossenen Lagern physisch voneinander zu distanzieren, werden diese als Quarantäneeinheiten verstanden und komplett abgeriegelt. (…) Würden all diese Menschen dort ebenso als schutzwürdig verstanden, wäre die logische Konsequenz die Auflösung dieser Einrichtungen. (…) Solche Maßnahmen haben nichts mehr mit einem demokratischen Gemeinwesen zu tun, sondern sind Zeichen diktatorischer Überwachungs- und Polizeistaaten. (…) Die Bundeswehr fungiert derzeit nicht nur als Ersatz für eine eingesparte soziale Infrastruktur und stellt die Armee damit als unentbehrlich für die Zukunft dar. Es droht eine beispiellose Mobilmachung ganz neuer Qualität (…) Es ist ziemlich sicher, dass einige Gesetzesänderungen auch nach der Corona-Krise bestehen bleiben, um sie bei einer nächsten »Krise« anwenden zu können. Die Definition einer solchen soll nach derzeitigem Stand der Bundestag in einfacher Mehrheit bestimmen – eine vollkommen undemokratische Entscheidungsweise. (…) Existentielle Angst und Unsicherheit fördern Egoismus und den Wunsch nach hartem Durchgreifen. Die derzeitige Bedrohung angesichts begrenzter medizinischer Kapazitäten fördert Rassismus, Nationalismus und autoritäre Antworten. Ein gut ausgebautes öffentliches Gesundheitssystem wäre dabei demokratischer als die Reglementierung individuellen Handelns zur Risikominimierung. (…) Weltweit antworten Staaten auf die Pandemie mit nationalistischen Lösungen, darunter Einreiseverboten und Ausfuhrverboten für Medikamente und Schutzausrüstung. Diesen scheinbaren Automatismus gilt es zu kritisieren und zu durchbrechen. Es ist immens wichtig, den solidarischen Umgang miteinander in den Vordergrund zu stellen und nicht das Misstrauen die Oberhand gewinnen zu lassen.”
- Der aufkommende Pandemie Faschismus. Splitter der Dissonanz
“In jedem Berliner Park eine Wanne. Die Besatzungen beäugen misstraulisch jede Aktivität Derjenigen, die sich in die Frühlingssonne gewagt haben. Drei Fußball spielende Kinder sind ein Grund einzuschreiten. Wir haben schon vor Jahren gelernt, ab Drei ist man eine terroristische Vereinigung. Nun also auch die Kinder. (…) Tagtäglich werden neue, gestern noch undenkbare Maßnahmen erwogen, in den Ring geworfen und dann nach Gusto verkündet. (…)Während allerorts die Angst grassiert sich anzustecken, die Panik, gut geschürt und gefüttert, das Denken und Abwägen in Nebel hüllt, sich viele in freiwillige Isolierung begeben und in völliger Unterwerfung nach noch mehr Staat, Repression und Kontrolle rufen, gibt es auch eine Gegenbewegung, die sich langsam zu formieren beginnt. Die erste Welle dieser Gegenbewegung sind die weltweiten Knastrevolten, die sich mittlerweile über fast alle Kontinente erstrecken. Gleichzeitige Revolten in zwei Dutzend italienischen Knästen (mit über 20 toten Gefangenen), eine Welle der Rebellion auch in den Knästen und Internierungslager für Flüchtlinge in Frankreich, in Kolumbien brennen die Trakte, allein in Bogota sterben dabei über 20 Gefangene. Aufstände auch in Argentinien, auf dem afrikanischen Kontinent,…. In Frankreich, in dem noch wesentlich strengere Ausgangssperren als hier herrschen, kommt es von Anbeginn an zu einer Gegenbewegung in den ärmeren Vierteln, den Vororten. (…) Nachdem große Teile der weltweiten Linken in den ersten Tagen der sich weltweit ausbreitenden Pandemie sich im Nachbeten der staatlichen Verhaltensregeln übte, #stayhome, tauchen immer mehr Texte auf, die eine dissidente Position beziehen, bezeichnenderweise aus Regionen, die weitaus mehr als die BRD von der Pandemie betroffen sind, wie Frankreich, oder Italien. Aufgabe jetzt wird es sein, Überlegungen zu entwickeln, wie es unter den Bedingungen des entstehenden Pandemie Faschismus möglich ist, die soziale Konfliktualität, die sich mit den Gilets Jaunes und dem Herbst der Aufstände von Beirut über Bagdad bis nach Chile erstreckte, weiter zu schüren. Dies wird nur in Abgrenzung zu jenen Linken möglich sein, die sich derzeit der Krisenlogik des Empires unterordnen, also im Kern systemrelevant sind…” Beitrag von Sebastian Lotzer vom 28. März 2020 bei Necropoliticsin Deutsch und Englisch
- Im Blick: Grundrechte und Corona-Maßnahmen
Dossier von Digitalcourage
- COVID-19: Eine günstige Gelegenheit für autoritäre Staaten
- Coronavirus: Die Krise als Hebel für Überwachung und Kontrolle /Im Zuge der Coronaviruspandemie droht die Etablierung eines Notstandsregimes /Kontaktbeschränkung im Alltag: In Bewegung bleiben
- Eine beunruhigende Perspektive: Im Zuge der Coronaviruspandemie droht die Etablierung eines Notstandsregimes
“Wir leben im Ausnahmezustand – so unangenehm es auch ist, sich das einzugestehen. Nach den neuesten Meldungen sind damit über 90 Prozent der Bevölkerung einverstanden. Angst ist die Grundlage dieses Einverständnisses, und Angst lässt sich leicht erzeugen. Die Angst vor dem Terror ist noch nicht einmal überwunden. Unser Grundgesetz kennt keinen Artikel 48 der Weimarer Verfassung, der dem Reichspräsidenten die Möglichkeit gab, die parlamentarische Kontrolle zu umgehen und mit Notverordnungen zu regieren. Der Parlamentarische Rat wollte bei der Beratung des Grundgesetzes gerade diesen Artikel nicht in die neue Verfassung übernehmen, da er in ihm einen der Sargnägel der Weimarer Republik sah. Zu Recht, denn die Notverordnungen der anschließenden Präsidialkabinette untergruben die demokratische Substanz der Republik so weit, dass sich schließlich der Reichstag mit dem »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« selbst entmachtete. Ist es mit dem Bild unserer Verfassung zu vereinbaren, dass wir nun weitgehend auf unsere sozialen Beziehungen verzichten, unseren kulturellen Austausch auf Smartphone und TV reduzieren, die Arbeit verlieren und in existentielle Not stürzen? Maßnahmen des Notstands auf Taubenfüßen. Erinnern wir uns. Der Kampf um die »Notstandsgesetze« dauerte seinerzeit Jahre, bis der Bundestag schließlich gegen großen Druck der Studierenden und Gewerkschaften im Mai 1968 dieses Paket einschneidender Maßnahmen für Krisenzeiten verabschiedete. Bei einem inneren Notstand, ob Spannungs‑, Verteidigungs- oder Katastrophenfall, können u. a. das Recht auf Freizügigkeit und das Briefgeheimnis eingeschränkt werden. Sogar der Einsatz der Streitkräfte ist möglich. Derzeit werden bereits der Zugriff aufs Handy als Trackinginstrument und der Rückgriff auf die Bundeswehr diskutiert. Es stellt sich die Frage, ob wir bereits in diesem Notstand leben, ohne dass er schon als solcher offiziell ausgerufen ist. Wie lange hält die Gewaltenteilung, wenn jetzt schon mit einem reduzierten Parlament der sonst oft langwierige Gesetzgebungsprozess mit drei Lesungen an einem Tag durchgezogen wird?. (…) Besorgniserregend in höchstem Maße, dass die Bevölkerung in diesem ständigen Reiz- und Ausnahmezustand reif gemacht wird, auch harte und tiefe Eingriffe in ihre Grundrechte zu akzeptieren. Sie schätzt ihre Sicherheit, die Befreiung von der Angst dann höher ein als ihre Freiheits- und Grundrechte und erkennt nicht mehr, wie weit dieser Ausnahmezustand sich schon in ihren Normalzustand geschoben hat – eine beunruhigende Perspektive für die Zukunft.” Beitrag von Norman Paech bei der jungen Welt vom 28. März 2020(Norman Paech ist emeritierter Professor für Verfassungs- und Völkerrecht)
- Coronavirus: Die Krise als Hebel für Überwachung und Kontrolle
“Weltweit bauen demokratische Staaten Grundrechte ab, um gegen das Coronavirus vorzugehen. Manchen Regierungen scheint das aber nur ein vordergründiges Anliegen zu sein. Leichtfertig abgesegnet könnten temporäre Maßnahmen zur Dauereinrichtung werden – und zum Schuss ins eigene Knie. Ein ausgeschaltetes Parlament, langjährige Haftstrafen für das Verbreiten von „Falschnachrichten“ oder für Verstöße gegen das Ausgehverbot: So weit wie das von Viktor Orbán regierte Ungarn ist bislang noch kein EU-Land gegangen, um die Coronakrise einzudämmen. Sollte das Parlament dem Gesetzentwurf nächste Woche mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit zustimmen – wovon Beobachter des Landes ausgehen –, dann hätte Ungarn bis auf Weiteres sein demokratisches und schon länger humpelndes Experiment beendet. In aller Welt versuchen derzeit die Regierungen, schnell die richtige Antwort auf die Pandemie zu finden. Manche, darunter Orbáns rechte Fidesz-Partei, scheinen eher die Gunst der Stunde zu nutzen, um ihre Macht abzusichern und ihre Kritiker zum Verstummen zu bringen, als mit demokratischen Mitteln die aktuelle Gesundheitskrise in den Griff zu bekommen. Nicht unähnlich die Situation in Israel: Dort setzt die Regierung des Premiers Benjamin Netanyahu höchst invasive Techniken ein, die das Land sonst im Anti-Terror-Kampf nutzt. Dem Inlandsgeheimdienst ist nun unter anderem erlaubt, sämtliche Handys des Landes zu tracken, ohne die Daten zuvor zu anonymisieren. Das soll dazu dienen, die Einhaltung der Quarantäne zu überprüfen und gegebenenfalls Infektionsketten nachzuverfolgen. (…)olche Meldungen lassen vielerorts die Alarmglocken schrillen. „Ich befürchte, in den nächsten Wochen und Monaten wird ungefähr jede vorstellbare digitale Überwachungsmaßnahme ins Spiel gebracht werden“, sagt der Überwachungsexperte Wolfie Christl. „Es besteht die Gefahr, dass Firmen und Staaten dabei bleibende Fakten schaffen. Viel mehr noch als nach 9/11.“ (…) „Wir müssen wachsam sein“, sagte der Soziologe Richard Sennett dem Tagesspiegel. Der Brite macht sich Sorgen darum, dass die Notfallmaßnahmen, wie sie nun überall ergriffen werden, dauerhaft installiert bleiben. „Mehr Überwachung, mehr Kontrolle könnte die bisherigen Regelungen ersetzen, legitimiert durch die Krise, aber über ihre zeitlichen Grenzen hinaus“, warnt Sennett…” Beitrag von Tomas Rudl vom 26. März 2020 bei Netzpolitik - Kontaktbeschränkung im Alltag: In Bewegung bleiben. Wegen Corona darf sich keiner mehr frei bewegen. Aber was darf wer wo und mit wem?
“… Seit dieser Woche gelten in Deutschland Regeln, die sich noch vor einem Monat kaum jemand hätte vorstellen können. Der Staat hat die Freiheit der Bevölkerung so umfassend eingeschränkt wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Dieser Einschnitt ist grundsätzlich gut begründet – es geht schließlich darum, die Verbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Ob die konkreten Maßnahmen verhältnismäßig sind, lässt sich aber pauschal schwer beantworten – je nach Bundesland fallen die Verbote nämlich unterschiedlich hart aus. (…) Ob Ausnahmen gelten, die nicht auf den Beispiellisten stehen, ist Auslegungssache. In der Praxis führt das oft zu Verwirrung – sogar bei denen, die die Regeln umsetzen müssen (…) Rechtlich stützen die Bundesländer ihre Verordnungen auf das Infektionsschutzgesetz, das weitreichende Grundrechtseinschränkungen erlaubt. Am Mittwoch hat der Bundestag extra eine Novelle durchgepeitscht, damit dort auch die Einschränkung der Freizügigkeit erwähnt wird. Lea Beckmann von der Gesellschaft für Freiheitsrechte hält es aber weiter für fraglich, ob durch dieses Gesetz auch weitgehende Ausgangsbeschränkungen gedeckt sind. Unabhängig davon müsse in jedem Einzelfall geklärt werden, ob die Grundrechtseinschränkung verhältnismäßig sei. „Allein auf der Parkbank sitzen muss erlaubt sein“, sagt die Juristin. (…) Bund und Länder haben sich darauf geeinigt, die aktuellen Beschränkungen mindestens zwei Wochen in Kraft zu lassen. In einigen Ländern gelten sie wie in Berlin zunächst bis Anfang April, in manchen wie Bremen und NRW bis nach den Osterferien. Wo besonders strenge Regeln gelten, müssen sich die Menschen also weiterhin vor der Polizei in Acht nehmen. Und manchmal auch vor eifrigen Mitbürgern…” Artikel von Sebastian Erb, Sarah Ulrich, Bert Schulz, Tobias Schulze und Doris Akrap vom 27.3.2020 in der taz online, siehe dazu auch die Übersichtss-Grafik nach Bundesländern
- Eine beunruhigende Perspektive: Im Zuge der Coronaviruspandemie droht die Etablierung eines Notstandsregimes
- Es ist höchste Zeit für einen Aufschrei!!! /Parlamentarische Selbstentmächtigung im Zeichen des Virus /Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes: Vollmacht für den starken Mann …
- Corona: Gesundheitsschutz – Grundrechte und Demokratie – Es ist höchste Zeit für einen Aufschrei!!!
“… die Welt wie wir sie noch vor Wochen und Tagen gekannt haben ist bereits und gerät mehr und mehr aus dem Ruder. Das ist wohl so. Und es ist sicherlich auch richtig, dass wir AllE uns Gedanken darüber machen, wie wir unsere persönliche physische und psychische Gesundheit, die unserEr LiebEn und auch die unserer Mitmenschen so gut es nur geht schützen. Und richtig ist sicherlich auch, dass diejnigEn, die in politischer Verantwortung stehen, sich Gedanken darüber machen, wie dafür die richtigen und v.a. auch erforderlichen Maßnahmen aussehen müssen, die gleichzeitig auch möglichst sicherstellen, dass das wirtschaftliche und soziale Überleben unserer Gesellschaft sichern. Dass dabei aber quasi im Handstreich und eher nonchalant Grundrechte nicht mehr nur in Frage gestellt werden, sondern faktisch rasiert, dass muss uns meines Erachtens DRINGEND allen zu denken geben…” Artikel von Andreas Buderus vom 26.3.2020– wir danken!
- Parlamentarische Selbstentmächtigung im Zeichen des Virus
“… Der Notfall, den es zu bekämpfen gilt, bedarf der Überprüfung; die Maßnahmen, die er rechtfertigen soll, umso mehr. Vor allem besteht im Gegenzug auch eine Schuld des politischen Prozesses gegenüber den Bürgern. Wenn der Staat seine institutionelle Macht voll ausschöpfen kann und muss, ist von ihm zu erwarten, dass er das in ihn investierte Vertrauen so weit wie möglich im Rahmen der vorhandenen Formen nutzt und diese nur im äußersten Notfall in Frage stellt. (…) Bevor ich an zwei Punkten die Probleme der gestern beschlossenen Novellierung des Infektionsschutzgesetzes (ISG) aufzeige, eine Bemerkung zu dem, was in der Novelle nicht geregelt wurde. Seit dem Wochenende herrschen in allen Ländern Ausgangssperren und Kontaktverbote, als deren Grundlage die Ermächtigung in § 32 iVm § 28 ISG dient. Wie in mehreren Beiträgen auch im Verfassungsblog dargelegt wurde, spricht wenig dafür, dass eine Stilllegung des gesamten öffentlichen Lebens, also ein Ende für politische Demonstrationen, Konzerte und Gottesdienste durch das ISG ermöglicht werden sollte. Die dagegen vertretene Ansicht, das Land ließe sich mit Hilfe einer Generalklausel dicht machen, erscheint einigermaßen kurios. Sie macht aus einem besonderen Polizeirecht ein allgemeines Notstandsrecht. Das Gesetz gibt diese Maßnahmen schlicht nicht her, sonst hätte es das Verhältnis von Standardmaßnahmen zur Generalklausel anders ausgestaltet. (…)Irritierend ist schließlich der Verzicht auf eine letzte demokratische Koordinationsstelle, auf das Bundeskabinett. Dass all diese Kompetenzen, die im Notfall wie jetzt im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit stehen, von einem einzelnen Ministerium ausgeführt werden können, das sich nur noch mit der eigenen Hierarchie und punktuell mit dem ins Einvernehmen zu setzenden anderen Ministerien auseinanderzusetzen hat, führt die Depolitisierung weitreichender Entscheidungen auf die Spitze. Diese Überlegungen zur demokratischen Legitimation ändern nichts daran, dass es hier zunächst um Fragen harter Legalität geht. Sollten wir aus der Krise mit der Einsicht herausgehen, dass fundamentale Normen der Arbeitsteilung zwischen Parlament und Regierung wie zwischen Bund und Ländern befristet unter einem ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Notstandsvorbehalt stehen, wäre das fatal…” Kommentar von Christoph Möllers vom 26.3.2020 im Verfassungsblog - Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes: Vollmacht für den starken Mann
“… In diesen Zeiten, in denen die Not zum Handeln drängt, gilt vielfach der Satz: Nehmt es bloß nicht so genau mit den Buchstaben des Gesetzes. Starke Männer sind gefragt, die nicht lange fragen, sondern handeln. Und manchmal ist das vielleicht gar nicht so schlecht. Genau besehen, ist die Rechtsgrundlage im Infektionsschutzgesetz wackelig, mit der gerade die Bevölkerung ins heimische Wohnzimmer verbannt wurde. Aber mit einem zugedrückten Auge ließen sich die Ausgangsbeschränkungen auch juristisch vertreten – und bitter nötig sind sie ohne Frage. (…) Dem Entwurf zufolge soll die Bundesregierung eine “epidemische Lage von nationaler Tragweite” ausrufen können, wenn sie eine “ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik Deutschland festgestellt hat”. Also genau jetzt zum Beispiel. Die Opposition freilich möchte erreichen, dass allein der Bundestag eine solche Lage feststellen dürfte. Aber wer auch immer in wahrscheinlich naher Zukunft diese “epidemische Lage” ausriefe, der läutete damit die Stunde des starken Mannes ein. (…) Sein Name wäre Jens Spahn. (…) Schaut man nun in Spahns Gesetzentwurf, dann staunt man, welch gewaltiger Spielraum dem Ministerium in einer epidemischen Lage zustehen soll…” Kommentar von Wolfgang Janisch vom 25. März 2020 bei der Süddeutschen Zeitung online- Zu den Details des nun vom Bundestag im Eiltempo verabschiedeten Gesetzespaket siehe “Das steht im Corona-Maßnahmenpaket”. Ausführliche Darstellung von Annelie Kaufmann und Tanja Podolski vom 25. März 2020 bei Legal Tribune Online
- Allerdings geht Bayern (mal wieder) einen eigenen, bezüglich Grundrechtseinschränkung härteren Sonderweg: [BayIfSG] 112-Newsletter des Bayerischen Innenministeriums
“Unter dem Eindruck dieser pandemischen Krise hat der Bayerische Landtag heute das Bayerische Infektionsschutzgesetz (BayIfSG) beschlossen. Dieses gibt der Staatsregierung als Kollegialorgan die Möglichkeit, den Gesundheitsnotstand auszurufen, wenn eine übertragbare Krankheit im Sinne des Infektionsschutzgesetzes in der bayerischen Bevölkerung so zahlreich oder in so schwerer Ausprägung auftritt oder aufzutreten droht, dass die Versorgungssicherheit durch das öffentliche Gesundheitswesen ernsthaft gefährdet erscheint. Im Sinne einer effektiven parlamentarischen Kontrolle erhält der Landtag ausdrücklich die Befugnis, jederzeit das Vorliegen eines Gesundheitsnotstandes zu prüfen und dessen Aufhebung zu erklären. Das BayIfSG steht systematisch selbständig neben dem Katastrophenschutzgesetz, insbesondere bleibt hiervon die Ausrufung des Katastrophenfalles unberührt. Die Befugnisse dieses Gesetzes sind anwendbar, sobald der Gesundheitsnotstand ausgerufen wurde. (…) Staatsregierung und Gesetzgeber sind sich bewusst, dass mit diesen Befugnissen tief in von Verfassungs wegen verbürgte Grundrechte wie Eigentum, allgemeine Handlungsfreiheit oder körperliche Unversehrtheit eingegriffen werden kann. Deshalb haben diese Maßnahmen absoluten Ausnahmecharakter und werden nur dann zur Anwendung kommen, wenn etwa notwendige Maßnahmen einvernehmlich nicht zu erzielen sind oder sprichwörtlich absolute „Not am Mann“ ist. Ausdrücklich unberührt bleibt die besondere Stellung der Angehörigen des Bayerischen Roten Kreuzes und der anderen freiwilligen Hilfsgesellschaften im Sinne des I. Genfer Abkommens. Mit dem Verweis auf dieses Kernstück des humanitären Völkerrechts stellt der bayerische Gesetzgeber klar, dass er auch unter den spezifischen Umständen einer Pandemie die besondere rechtliche Stellung derer wahrt, die den Kranken und Hilflosen zu Hilfe kommen. Das Gesetz gilt vorerst befristet bis zum 31. Dezember 2020. Vor einer ggf. anzudenkenden Verlängerung wird der Nutzen des heute erlassenen Gesetzes in geeigneter Weise zu evaluieren sein…” Newsletter des Bayerischen Innenministeriums vom 25. März 2020, zu Details des BayIfSG siehe Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt Nr. 7/2020, S.174 vom 25. März 2020
- Zu den Details des nun vom Bundestag im Eiltempo verabschiedeten Gesetzespaket siehe “Das steht im Corona-Maßnahmenpaket”. Ausführliche Darstellung von Annelie Kaufmann und Tanja Podolski vom 25. März 2020 bei Legal Tribune Online
- [Gesellschaft für Freiheitsrechte] Corona und Grundrechte: Fragen und Antworten
“Viele Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie schränken Grundrechte ein. Hier beobachten wir die Entwicklungen, beantworten häufige Fragen und bieten rechtliche Einschätzungen. Unser FAQ wird regelmäßig erweitert und aktualisiert. Auch in der aktuellen, von Unsicherheiten geprägten Situation gilt für uns: Wir werden sorgfältig prüfen, ob staatliche Maßnahmen mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Sollte es zu verfassungswidrigen Grundrechtseinschränkungen kommen, werden wir geeignete rechtliche Schritte ergreifen…” FAQ von und bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte
- Corona: Gesundheitsschutz – Grundrechte und Demokratie – Es ist höchste Zeit für einen Aufschrei!!!
- Corona und Grundrechte: Fragen und Antworten /Gesundheitsnotstand: “Jede geeignete Person” soll zur “Erbringung von Leistungen” herangezogen werden können /Freiheit auf Bewährung? …
- Corona und Grundrechte: Fragen und Antworten
“Viele Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie schränken Grundrechte ein. Hier beobachten wir die Entwicklungen, beantworten häufige Fragen und bieten rechtliche Einschätzungen. Unser FAQ wird regelmäßig erweitert und aktualisiert. Auch in der aktuellen, von Unsicherheiten geprägten Situation gilt für uns: Wir werden sorgfältig prüfen, ob staatliche Maßnahmen mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Sollte es zu verfassungswidrigen Grundrechtseinschränkungen kommen, werden wir geeignete rechtliche Schritte ergreifen…” Ausführliche rechtliche Wertung von Daniela Turß von der Gesellschaft für Freiheitsrechte, Stand 24. März 2020, mit permanenter Aktualisierung (deshalb als Informationsquelle besonders empfehlenswert)
- Freiheit auf Bewährung? Das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip in der Pandemie
“„Wir werden uns das Verhalten der Bevölkerung an diesem Wochenende anschauen. Der Samstag ist ein entscheidender Tag, den haben wir besonders im Blick. Am Samstag verabreden sich die Menschen ja traditionell miteinander, weil sie frei haben. Aber das […] muss jetzt eingestellt werden.“ (…) Die Worte, von denen man wohl annehmen muss, dass sie sorgfältig und in Absprache mit der Bundeskanzlerin gewählt worden waren, machen deshalb so stutzig, weil die Annahme, man könne grundrechtliche Betätigung gleichsam „unter Bewährung“ stellen, auf einem ganz grundlegenden Fehlverständnis der Funktionsprinzipien des freiheitlichen Verfassungsstaates beruht. Ihr liegt das bizarre Bild eines Staates zugrunde, der seinen Bürgern Freiheit nur solange gewährt, wie diese davon nach seinen Vorstellungen und gerade nicht nach ihrem Belieben Gebrauch machen. Wo immer der Einzelne – womöglich gar digital überwacht – diesen Vorgaben nicht gerecht wird, hebt der Staat zunächst den Finger zur Mahnung und anschließend die Freiheit wieder auf. Frei nach dem Motto: „Der Staat hat’s gegeben, der Staat hat’s genommen“. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Grundrechtliche Freiheit wird dem Einzelnen nicht derart gönnerhaft vom Staat gewährt, sondern durch den Staat gewährleistet. Das ist weniger terminologische Petitesse als vielmehr sprachlicher Ausdruck einer historischen Errungenschaft, derer sich die Rechtsordnung nicht einmal im größten Notstand begeben kann, ohne sich selbst aufzugeben: Nicht der Bürger ist um des Staates willen da, sondern der Staat für den Bürger. Dieser entscheidet selbst, ob, wann und wie er von seiner Freiheit Gebrauch macht. Einem allgemeinen Ordnungsvorbehalt ist er dabei ausdrücklich nicht unterworfen. (…) Noch eine Bemerkung sei in diesem Zusammenhang erlaubt. Vielfach war zuletzt zu lesen, die Krise sei die Stunde der Exekutive. Auch das ist ein Irrtum, der schon in der europäischen Staatsschulden- und in der Flüchtlingskrise begegnet ist: Das Herz der repräsentativen Demokratie schlägt selbst im Ausnahmezustand nicht in der Exekutive, sondern im Parlament. Die notwendige Diskussion hat ihren Ort weder im Bundeskanzleramt noch in der Bayerischen Staatskanzlei. Es sind die unmittelbar legitimierten gesetzgebenden Körperschaften, die unter den Augen der Öffentlichkeit die für die Grundrechtsentfaltung und ‑verwirklichung wesentlichen Regelungen treffen und einen gerechten Ausgleich der widerstreitenden Interessen ausloten müssen. An diesem Verantwortungsarrangement darf nicht einmal der schnelle Takt, den das Virus vorgibt, etwas ändern.” Beitrag von Lutz Friedrich vom 23. März 2020 beim Verfassungsblog - Standortdaten gegen Corona: Jens Spahn lässt Testballon steigen
“Am Wochenende sickerte ein Gesetzentwurf aus dem Gesundheitsministerium durch. Demnach hätten Handy-Standortdaten im Kampf gegen Corona eingesetzt werden sollen. Obwohl der Vorschlag umgehend zurückgezogen wurde, will Gesundheitsminister Jens Spahn nicht lockerlassen. (…) Zum anderen wiesen Datenschützer und Bürgerrechtler energisch darauf hin, wie gefährlich und grundrechtsfeindlich eine Umsetzung wäre. „Alle Maßnahmen der Datenverarbeitung müssen erforderlich, geeignet und verhältnismäßig seien“, mahnte gestern – zum wiederholten Male – der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Ulrich Kelber. „Bisher fehlt jeder Nachweis, dass die individuellen Standortdaten der Mobilfunkanbieter einen Beitrag leisten könnten, Kontaktpersonen zu ermitteln, dafür sind diese viel zu ungenau“. Die Weitergabe und Auswertung anonymisierter Daten zur Analyse von Bewegungsströmen, mit der etwa die Telekom Deutschland das Robert-Koch-Institut inzwischen unterstützt, sei hingegen unter den aktuellen Umständen „datenschutzrechtlich vertretbar“, sagte Kelber. (…) Erst kürzlich konnte etwa die New York Times nachweisen, wie viel sich aus Handy-Standortdaten herauslesen lässt, selbst wenn es sich um scheinbar anonymisierte handelt. Geraten solche sensiblen Daten in die falschen Hände, dann hätte die Regierung und unsere Gesellschaft nicht nur ein Coronaproblem. (…) Südkoreaner wurden von einer Informationswelle überflutet, die zudem intime Details aus dem Privatleben so mancher Menschen enthüllte, berichtete der Guardian. Trotzdem will Spahn auf einem „gemeinsamen Weg“ herausfinden, wie sich künftig Kontaktnachverfolgung umsetzen ließe. Obwohl es inzwischen eine bedingte Absage aus dem SPD-geführten Bundesjustizministerium gibt, will Spahn nicht locker lassen: „Das Thema ist weiterhin Thema“ Beitrag von Tomas Rudl vom 23. März 2020 bei Netzpolitik - Gesundheitsnotstand: “Jede geeignete Person” soll zur “Erbringung von Leistungen” herangezogen werden können
“Bayern will ein neues Infektionsschutzgesetz mit weitreichenden Befugnissen nächste Woche umsetzen, die Bundesregierung scheint dem zuvorkommen zu wollen (…) Der FAZ gegenüber erklärte der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: “Hier bündeln wir Kompetenzen. Und noch wichtiger: Wir können künftig in einer Lage wie dieser binnen Stunden für Ärzte, Pflegekräfte, Apotheker und alle anderen, die weit über das normale Maß anpacken, Bürokratie wegnehmen, Regeln anpassen, Vergütungen erhöhen.” So sollen “grenzüberschreitende Personentransporte” verboten, per Handyortung die Kontaktpersonen von Infizierten gesucht, die Versorgung mit Arzneien und Schutzausrüstung zentral gesteuert oder medizinisches Personal zwangsrekrutiert werden können. Ausgangssperren sollen aber nicht angeordnet werden können. (…) Nach dem Entwurf (AZ 18/6945) soll “der Ministerpräsident oder der für Gesundheitsfragen zuständige Staatsminister” offenbar ohne Einbeziehung des Parlaments bei einer übertragbaren Krankheit, die die “Versorgungssicherheit durch das öffentliche Gesundheitswesen ernsthaft gefährdet”, den Gesundheitsnotstand ausrufen können. Dieser soll anstatt oder zusätzlich “Katastrophenfall”, den Söder bereits am 16. März ausgerufen hat, angeordnet werden können. Wie das der Bund auch anstrebt, soll der Staat “bei jedermann medizinisches, pflegerisches oder sanitäres Material beschlagnahmen, soweit dies zur Aufrechterhaltung der notwendigen Gesundheitsversorgung der Bevölkerung erforderlich ist”. Es kann ein Verbot erlassen werden, bestimmte Materialien zu verkaufen, oder der Besitzer gezwungen werden, diese dem Staat zu einem behördlich festgelegten Betrag zu verkaufen. Überdies soll der Staat Betrieben anordnen können, benötigtes Material zu produzieren. Und wenn öffentlich gemacht wurde, dass der Staat bestimmtes Material benötigt, besteht eine Meldepflicht für diejenigen, die davon einen über den Eigenverbrauch hinausgehenden Bestand haben. Einschneidender dürfte aber sein, dass Feuerwehren und freiwillige Hilfsorganisationen verpflichtet werden können, die Daten von Mitgliedern zu übergeben, die über “medizinische oder pflegerische Kenntnisse” verfügen. Das würde auch für die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns gelten, die die persönlichen Daten der aktiven und pensionierten Mitglieder übermitteln muss, die den ärztlichen Personalbedarf decken können. Herangezogen werden sollen aber nicht nur Menschen mit medizinischen Kenntnissen, sondern könnte im Prinzip jeder zu Arbeiten verpflichtet werden (…) Das ist auch nach dem Katastrophenschutzgesetz bereits möglich, aber medizinisches Personal kann “direkt zur Leistung von Diensten bei medizinischen Einrichtungen verpflichtet werden. Das können Krankenhäuser, Pflegeheime oder auch Arztpraxen sein.” Zwar können für alle Maßnahmen Entschädigungen verlangt werden, aber ein Einspruch hätte keine aufschiebende Wirkung…” Beitrag von Florian Rötzer vom 22. März 2020 bei Telepolis - Standortdaten und Corona: Unverhofftes Datengeschenk
“Staatliche Einrichtungen versprechen sich viel von der Auswertung von Standortdaten, die ihnen Mobilfunkbetreiber zuliefern. (…) Nun hat es die Deutsche Telekom dem österreichischen Mobilfunkbetreiber A1 nachgemacht: Rund fünf Gigabyte an anonymisierten Standortdaten hat die Deutsche Telekom-Tochter Motionlogic am Dienstag Abend dem Robert-Koch-Institut (RKI) übergeben. Weitere Daten sollen folgen, mit denen sich Bewegungsmuster der Handynutzer umfassend analysieren lassen sollen. Der Ansatz macht Schule. Auch die o2-Mutter Telefónica zeigt sich bereit zu Gesprächen, um Behörden „mittels solcher Analysen bei der Eindämmung des Coronavirus“ zu unterstützen, sagt eine Telefónica-Sprecherin. Ähnlich der Telekom betreibt das Unternehmen eine Datenanalysierungsplattform. Das versetze das Unternehmen in die Lage, eine „große Menge an anonymisierten und aggregierten Daten für Analysezwecke liefern“. (Hinweis: Kunden beider Unternehmen können bzw. müssen aktiv der Auswertung mittels Opt-Out widersprechen.) (…) Doch was mit diesen Analysen genau passieren soll und ob sie in der aktuellen Krise wirklich hilfreich sind, bleibt derzeit unklar. In Österreich scheint sich der Einsatz derzeit darauf zu beschränken, grob die Einhaltung der dort geltenden Ausgangssperre zu überprüfen. In Deutschland wiederum stehen mögliche Auswertungen von Bewegungsflüssen im Vordergrund. (…) Dass sich eine zuverlässige Anonymisierung nur sehr schwer dauerhaft umsetzen lässt, ist Konsens unter Wissenschaftlern und Datenschützern. Wie tauglich das von Motionlogic eingesetzten Verfahren ist, lässt sich von Außen aber kaum überprüfen. (…) Derweil kann sich der österreichische Datenschutzexperte Wolfie Christl – zähneknirschend – die Nutzung aggregierter Standortdaten vorstellen – wenn es denn dabei bleibt. (…)„Zwischen aggregierter Auswertung und Anwendung der Daten auf Einzelpersonenebene liegen Welten“, sagt Christl. Sollte dies vermischt werden, „könnte schnell der Dammbruch in Richtung Anwendung auf Einzelpersonenebene erfolgen“, befürchtet der Datenschützer. Was das konkret bedeuten könnte, führte Christl anhand eines Beispiels aus: „Im Extremfall könnten mobile Standortdaten auf Einzelpersonenebene natürlich als eine Art elektronische Fußfessel genutzt werden.“ Beitrag von Tomas Rudl vom 19. März 2020 bei Netzpolitik
- Corona und Grundrechte: Fragen und Antworten
- Corona: Die Antworten nicht den Autoritären überlassen /Die Welt nach Corona wird jetzt ausgehandelt /PAD für Sammlung aktueller Beschlüsse und Maßnahmen
- PAD für Sammlung aktueller Beschlüsse und Maßnahmen zu Corona
Daniel Mullis und Paul Zschocke haben ein PAD eingerichtet, “um aktuelle Reaktion und eingeführte Restriktionen in Folge der Corona-Pandemie in unterschiedlichen Bereichen zu sammeln und zu dokumentieren.” Sie rufen auf, sie bei ihrer Sammlung aktueller politischer Beschlüsse und Maßnahmen unterstützen: “Wir wollen uns einen möglichst breiten Überblick verschaffen und das können wir nur gemeinsam leisten und so bedarf das Projekt eurer Mitarbeit! Um Übersichtlichkeit zu gewährleisten bitten wir die unten vorgeschlagene Struktur zu beachten und Beiträge entsprechend zu formatieren. Außerdem bedarf das Pad sicherlicher einer redaktionellen Betreuung; wir können diese nicht in vollem Umfang und jederzeit gewährleisten und bitte hier um Unterstützung (informiert uns diesbzgl. gerne per Mail).” Finden wir unterstützendswert!
- Corona: Die Antworten nicht den Autoritären überlassen
“… Twitter quillt über mit Tweets die eine Ausgangssperre fordern, weil sich die Leute nicht selbst in eine solche begeben. Social Distancing ist nicht genug, man muss die Leute wegsperren. Wenn die Leute nicht „vernünftig“ handeln, dann muss es eben der Staat richten. Die Vernunft, an der sich die neugewonnene Erkenntnis orientiert, ist eine vermeintlich gesundheitspolitische: Nur mit noch stärkeren Ausgangsbeschränkungen könne man verhindern, dass sich das Coronavirus weiter verbreitet und die voranschreitende Pandemie aufhalten. Am besten von der Polizei kontrolliert und durchgesetzt. Dass die Forderung sich in der Wohnung einzuschließen für manche Menschen schwerwiegendere Folgen hat als für andere, spielt dabei keine Rolle. Mit Netflix und Homeoffice in der mit dem*der Partner*in bewohnten Drei-Zimmer-Altbau-Wohnung, ist es einfach nach Ausgangssperre zu rufen. Für Menschen die nicht das Glück haben, über so viel Wohnraum zu verfügen – sei es wegen Armut oder ihrem illegalisierten Status – ist der öffentliche Raum wesentlich wichtiger. Ganz zu schweigen von der bereits in China dokumentierten Zunahme patriarchaler Gewalt während der dortigen Ausgangsbeschränkungen. Dass diese Maßnahme selbst bei epidemiologischen Expert*innen wegen ihres unklaren Nutzens nicht unumstritten ist, ist scheinbar auch irrelevant. Und vor allem bleibt bei allen Forderungen nach der harten Hand des Staates völlig unterbeleuchtet, dass die Entscheidung eine Ausgangssperre zu verhängen nicht nur ein Akt zur Seuchenbekämpfung ist, sondern auch eine politischer. Und die Maßnahmen, die jetzt getroffen werden, werden sich in Zukunft verselbstständigen. (…) Deswegen ist es umso wichtiger, angesichts der jetzt um sich greifenden Rufe nach einem autoritären Staat, selbst aktiv zu werden: Sich diesen Rufen aktiv entgegen zu stellen und vor allem Solidarität zu organisieren. Nur so kann die Pandemie von uns aufgehalten werden. Und nur so können wir verhindern, dass die reaktionäre Law&Order Fraktion diese Krise für sich nutzt und noch repressivere Bedingungen für die Auseinandersetzungen der Zukunft schafft.” Kommentar von David Rojas Kienzle vom 22. März 2020 beim Lower Class Magazine - Die Welt nach Corona wird jetzt ausgehandelt
“… Die globale Pandemie, die Weltwirtschaftskrise und die politischen Umwälzungen treffen besonders die Armen und Entrechteten brutal, in jenen Ländern, in denen das Gesundheitssystem nicht ansatzweise funktioniert – die vielen Orte, an denen der Ausnahmezustand für die Unterdrückten bereits zuvor schon die „Regel“ war, mit Walter Benjamin gesprochen. In anderen Staaten hingegen, in den europäischen etwa, ist der Ausnahmezustand in dieser Intensität eine neue Erfahrung. In diesem Moment sind Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf einem Nullpunkt. Es ist kein Widerspruch, viele der staatlichen Maßnahmen aus gesundheitspolitischer Perspektive zu begrüßen, den politischen Ausnahmezustand absolut ernst zu nehmen und sich gleichzeitig seiner Logik nicht zu unterwerfen. Im Ausnahmezustand „dankt das Recht ab, die Prärogative tritt auf“ (Günter Frankenberg). Aktuell wird verwaltet und regiert. Wir erleben eine rasante Beschneidung von Grund‑, Bürger- und Menschenrechten, die in liberalen Demokratien ohne den Modus der Krise auf diese Weise nicht vorstellbar wäre. Das alles wird mit Infektionsschutz und Seuchenbekämpfung begründet, nicht selten zu Recht. Und dennoch kann diese Logik fatale Konsequenzen haben. In Deutschland wird über die Anwendung der Notstandsgesetze debattiert, ein Vorgang, der sich schwer zurückholen lassen wird. Von sozialen Bewegungen geschwächte Präsidenten wie Emmanuel Macron in Frankreich, Sebastián Piñera in Chile oder die libanesische Regierung könnten sich politisch über die Seuche sanieren. Sie können mit dem Ausnahmezustand und Dekreten ihre politische Macht im Namen der Gesundheit und der Nation festigen – ein Mechanismus, der den Effekten des Krieges ähnelt und zum Teil, wie in Frankreich, auch in seiner Rhetorik präsentiert wird. Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass die staatlichen Maßnahmen dieses Ziel verfolgen oder deswegen nicht gesundheitspolitisch erforderlich sind. Trotzdem haben sie nicht-intendierte fatale Konsequenzen und öffnen einen politischen Raum. Für das Verständnis der Dynamik innerhalb dieses politischen Raums ist es wichtig zu sehen, dass bereits Maßnahmen getroffen werden, die die Arbeits- und Betriebswelt betreffen: verschärfte Arbeitszeiten, die Sonntagsöffnung der Läden, die Kolleginnen an den Supermarktkassen, die ohne Schutzmasken und Handschuhe den Kundinnen schutzlos ausgeliefert sind. Patienten, die schon jetzt von Kliniken abgewiesen werden; Depressive, deren Behandlungen eingestellt werden – diese Abwägungen finden jetzt statt und treffen nicht alle Menschen gleichermaßen, sondern bestimmte gesellschaftliche Gruppen besonders hart und ohne den Schutz von Rechtsberatung oder von gewerkschaftlichen Tätigkeiten, die allerorten zurückgefahren werden. Andere Einschränkungen wie die faktische Aufhebung des humanitären Flüchtlingsschutzes und das Festhalten an Abschiebungen fallen in der Corona-Krise nicht vom Himmel – sie sind das Produkt von Politiken der Abschottung, die schon zuvor in den Laboratorien in den EU-Hotspots auf den griechischen Inseln erprobt wurden. Die Schließung von Grenzen für Migrantinnen und ihre Einschließung in Lager wird als seuchenbedingte Mobilitätseinschränkung verkauft, während man zehntausende Staatsbürger aus aller Welt heimholt. Das ist Nationalismus. (…) Noch im Versuch der Wahrung des Status quo ante hat sich das Handeln der Regierungen von vielen neoliberalen Phantasmen befreit und sich auf einen massiven Staatsinterventionismus umgestellt, der gar nicht umhin kommt, sich in den Dienst eines Gemeinsamen, eines Gemeinwesens zu stellen, das sich aus – um es marxistisch auszudrücken – Gebrauchswerten, solidarischen sozialen Beziehungen und geteilten Bedürfnissen zusammensetzt. Wenn Ford und General Motors überlegen, statt Autos nun medizinisches Gerät zu produzieren, blitzt eine gemeinwohlorientierte Wirtschaft auf. Dies ist aber wiederum nur eine Seite der Geschichte. Zugleich kann der derzeitige Rückzug auf das angeblich „Gemeinsame“ den autoritären Umschlag in die Volksgemeinschaft vorbereiten. Wir sollten uns nichts vormachen: Die ersten Zeichen der nachbarschaftlichen Solidarität, der Sorge und Rücksichtnahme sind zwar ein großer Hoffnungsschimmer, aber diese Stimmung wird noch auf eine harte Probe gestellt werden. Und sie ist auch jetzt schon ambivalent, ähnlich wie es die Erfahrungen aus dem Sommer der Migration 2015 waren. (…) Wir müssen uns auch die Frage stellen, wie wir uns zu den Menschen verhalten, die sich trotz des Primats des sozialen Abstands anders verhalten. Was passiert, wenn Menschen im öffentlichen Raum streiken wollen, weil in der Krise ihre Existenzgrundlage verloren geht? Was ist mit den Menschen, die jetzt im indischen Shaheen Bagh weiter gegen das rassistische Staatsbürgerschaftsgesetz auf der Straße sind, in der Masse von Körpern? Wird die Kultur des sozialen Abstands durchhalten, wenn sich die Widersprüche in den nächsten Wochen und Monaten verschärfen? Wird man es schaffen im digitalen oder öffentlichen Raum Formen des Protests und des Nicht-Einverstandenseins zu organisieren, die dennoch unsere Gesundheit schützen?…” Artikel von Mario Neumann und Maximilian Pichl vom 20.03.2020 bei Der Freitag online
- PAD für Sammlung aktueller Beschlüsse und Maßnahmen zu Corona
- Corona-Epidemie: Tagebuch der Inneren Sicherheit /Vorsichtig mit der Vorsicht! – Die Massnahmen gegen das Coronavirus gebieten uns, wachsam zu sein
- Corona-Epidemie: Tagebuch der Inneren Sicherheit
“Wir sammeln für Euch die Ereignisse – aktuellste zuerst (helft uns gern beim Suchen)...” Tagebuch sicherheitsrelevanter Informationen bei clip – Bürgerrechte & Polizei - Vorsichtig mit der Vorsicht! – Die Massnahmen gegen das Coronavirus gebieten uns, wachsam zu sein. Das gilt auch, wenn der Ausnahmezustand einmal beendet ist
“… Lockdown-Wochen in der Schweiz. Der Bundesrat hat dem Land den Sauerstoff entzogen. Er hat die Gesellschaft in ein künstliches Koma versetzt, um so die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Aber wie das nun so ist mit KomapatientInnen: Wenn sie dann wieder aufwachen, erkennen sie manchmal die Welt nicht wieder. Und dann stellen sie vielleicht fest, dass die Grenzen noch eine Weile zubleiben, zumindest aber Kontrollen aufrechterhalten werden. Allein schon, um das Sicherheitsbedürfnis in der Bevölkerung zu verstärken. Es gibt politische Kräfte, die aus der Abschottung Kapital schlagen wollen und die sehr genau hinschauen, wenn die Regierung, gestützt auf Notrecht, die Teilabschaltung des öffentlichen und privaten Lebens verfügt. (…) Unsere Bewegungsfreiheit ist beschnitten, die Versammlungsfreiheit aufgehoben, kulturelle, soziale – urmenschliche – Aktivitäten sind bis auf Weiteres unter Verbot gestellt. Verteidigungsministerin Viola Amherd hat «die grösste Mobilmachung seit dem Zweiten Weltkrieg» ausgerufen und 8000 Armeeangehörige in Bereitschaft versetzt. An den Schweizer Grenzen stehen jetzt SoldatInnen, die niemanden ins Land lassen dürfen, der keinen Schweizer Pass hat oder nicht für wichtige Arbeiten benötigt wird. Gut möglich, dass die autoritären Dekrete nötig und dringlich sind. Doch die weitere Eskalation ist vorgezeichnet: Bald dürfte der Ruf nach einer Ausgangssperre ertönen, danach die gewaltsam durchgesetzte Einhaltung der neuen Restriktionen. Und dann? Angetrieben von steigenden Fallzahlen, überforderten Kantonen und alarmschlagenden Virologen ist der Bundesrat in einen Handlungszwang geraten – oder vielmehr in Handlungsreflexe. Das könnte sich auch auf die Gesellschaft übertragen. Die Gefahr besteht, dass in Zeiten kollektiver Verunsicherung diese irgendwann in eine irrationale Panik kippt. Und diese den Blick für demokratiepolitische Gefahren und Widersprüche trübt. (…) In den nächsten Wochen müssen wir uns nicht nur gegenseitig helfen und beistehen, wir müssen auch wachsam und kritisch bleiben. Zumindest solange der Dissens nicht per Notverordnung verboten ist.” Kommentar von Renato Beck aus der WOZ Nr. 12/2020 vom 19. März 2020
- Corona-Epidemie: Tagebuch der Inneren Sicherheit
- Bayern ruft „Katastrophenfall“ aus – Zwangsarbeit, Beschlagnahmungen und Einschränkung der Grundrechte sind jetzt möglich
“… Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder hat heute um 10:09 bei einer Pressekonferenz erklärt, in Bayern den „Katastrophenfall“ aufgrund des Coronavirus auszurufen. Dies gelte erst einmal für 14 Tage. (…) Auf der Pressekonferenz wurde kaum darauf eingegangen, welche weitgehenden quasi-diktatorische Vollmachten die bayrische Regierung damit erhält. Der „Katastrophenfall“ bedeutet, dass zivile Organisationen wie die Feuerwehr, das technische Hilfswerk, sowie Hilfsorganisationen zusammen mit polizeilichen und militärischen Organisationen wie der Polizei, der Bundespolizei und der Bundeswehr unter ein einheitliches Kommando gestellt werden – insgesamt rund 470.000 Personen. Das Kommando liegt beim bayrischen Innenministerium. In dieser Kommandostruktur nehmen oftmals die militärischen Strukturen eine zentrale Rolle ein. (…) Zudem können die Behörden zur „Katastrophenabwehr“ von jeder Person die Erbringung von „Dienst‑, Sach- und Werkleistungen“ verlangen, wie der Bayrische Rundfunk berichtet. Das bedeutet, dass Zwangsarbeit angeordnet werden kann. Konkret wurde in der Pressekonferenz erklärt, dass z.B. MitarbeiterInnen von Wasserwerken auch in dem Betrieb zusammen mit Lebensmitteln unter Quarantäne gestellt werden könnten und dort weiterarbeiten würden. Zudem darf bei Gefahr in Verzug Eigentum auch unmittelbar beschlagnahmt werden. Wer sich den Anweisungen widersetzt oder nicht rechtzeitig oder nicht vollständig nachkommt, der kann mit einer Geldbuße bis zu fünftausend Euro belegt werden. Laut Innenminister Hermann seien im Extremfall sogar „Freiheitsstrafen“ möglich. Mit der Ausrufung des Katastrophenfalls kann die Bayerische Landesregierung im Extremfall auch Grundrechte einschränken. So können das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Freiheit der Person, die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit und die Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt werden.” Meldung vom 16. März 2020 von und bei Perspektive Online, siehe auch:
- Ausgangssperren in Österreich: Davon träumen Autokraten
“Österreich hat wegen des Coronavirus die Freiheitsrechte der Bevölkerung massiv eingeschränkt. Das ist in dieser Situation nachvollziehbar, aber es birgt auch Gefahr…” Ein Kommentar von Hasnain Kazim, Wien, vom 16. März 2020 bei der Zeit online
Der Beitrag Die Gesundheitsdiktatur (?) – Notstand wegen Corona-Virus verlangt nach Wachsamkeit gegenüber dem Staat erschien zuerst auf LabourNet Germany.