Die US-Sanktionen, der Niedergang der Ölpreise und nicht zuletzt die Corona-Pandemie treffen das Leben der unteren und mittleren Schichten der iranischen Gesellschaft sehr hart und fordern enorme menschliche Opfer und materielle Schäden.
Ein Regime, das sich selbst in einen religiösen und den heutigen Realitäten sehr fernen Glaubenskodex einsperrt, manövriert sich zwangsläufig in einen Teufelskreis, der ständig Krisen und Katastrophen produziert.
Zurzeit spitzen sich die ökonomische, die soziale und die politische
Krise zu, aber auch der Widerstand wächst. Angesichts dieser in der Tat sehr
kritischen Situation stellt sich die Frage: Was tut die politische Elite des
Landes dagegen? Kann sie denn nicht mit staatlichen Mitteln das Leid der Leute
etwas lindern und die Schäden begrenzen? Diese und ähnliche Fragen können mit
einem etwas genaueren Blick auf die Bilanz der mehr als vierzigjährigen
Herrschaft der islamischen Republik in Iran besser und verständlicher
beantwortet werden.
Ein Regime, das sich selbst in einen religiösen und den heutigen
Realitäten sehr fernen Glaubenskodex einsperrt, manövriert sich zwangsläufig in
einen Teufelskreis, der ständig Krisen und Katastrophen produziert. Es darf
nicht übersehen werden, dass Iran wegen seiner geo-strategischen Lage ständigen
vom imperialistischen Ausland provozierten Krisen ausgesetzt war und ist.
Während der letzten gut hundertjährigen iranischen Gegenwartsgeschichte haben
britische, russische, westeuropäische, amerikanische ‒ und aktuell chinesische!
‒ Einmischungen die gesellschaftliche Entwicklung Irans negativ beeinflusst und
gestört. Doch die Wurzeln der heutigen iranischen Krise(n) liegen im Lande
selbst und müssen im Herzen des Teufelskreises gesucht werden.
Ökonomische Krise
Wie anfangs erwähnt, basiert die Staatsräson der Machthaber der
islamischen Republik auf religiösen Grundsätzen. Daraus leiten sie ihre
innenpolitische Praxis sowie ihre verdeckten und offenen militärischen und
politischen Abenteuer in den Nachbarländern der Region ab, wo ihre schiitischen
Mitstreiter als bewaffnete Gruppen im Untergrund, als Opposition oder gar als
Teile der Regierung aktiv sind. Während das Regime aufgrund seines religiösen Spagats
regional und international als Sektierer und Störer auffällt, blieb und bleibt
es der Ordnung des neoliberalen Kapitalismus treu verbunden. Doch durch die
Jahre haben die Kategorien Treue und Verbundenheit mehr und mehr an Bedeutung
verloren, was blieb ist Abhängigkeit und Ergebenheit zu Ungunsten der
iranischen Interessen. Die Spitzenfunktionäre des Regimes pflegen eine
„Wirtschaftspolitik“, die mehr den Sitten und Gebräuchen der islamischen
Urzeiten entspricht als modernen wirtschaftlichen Normen. Handelsgeschäfte,
Kaufen und Verkaufen (Import/Export) und Tausch von Rohstoffen gegen Cash oder
fertige Industriewaren werden von ihnen bevorzugt. Begriffe wie Schutz
„eigener“ Ressourcen vor fremden Interessen, Entwicklung „eigener“ Produktionskapazitäten
oder ein Minimum von Grundsicherung „eigener“ Arbeitskräfte sind ihnen fremd.
Verheerende Spuren dieser Art des wirtschaftlichen Handelns sind in allen
Bereichen der iranischen Volkswirtschaft überdeutlich zu sehn. Gerade in einer
Krisenzeit, in der die iranische Wirtschaft schon durch unsachliche staatliche
Maßnahmen sowie durch all die gegenwärtige Korruption extrem geschwächt war,
überrollte das Fieber der von Weltbank und IWF diktierten Privatisierung das
Land.
Die unten angeführten Fakten zum Phänomen der „Privatisierung“ in Iran basieren
auf folgenden drei Quellen. A) Gleichzeitig mit der Privatisierungswelle fielen
die damit einhergehenden Unregelmäßigkeiten den Beschäftigten der betroffenen
Betriebe auf; sehr früh fingen sie an, dagegen zu protestieren und veröffentlichten
im Laufe ihrer Kämpfe brisante Details über die fragwürdigen
Betriebsübertragungen. B) Für die rasche Veröffentlichung und Verbreitung
sorgte u. a. die allen Zensurbarrieren des Regimes trotzende iranische Jugend. (Auf
dem Höhepunkt der Protestbewegung während der letzten zwei Jahre beteiligten
sich iranische Schüler*innen und Studierende massiv an den Protesten; einer
ihrer Slogans lautete: „Wir sind Kinder der Arbeiter /wir bleiben an ihrer
Seite“!) Und schließlich C) Eigentlich ging und geht es den unterschiedlichen
Flügeln und Fraktionen bei ihrem Streit darum, wer mit welchen Methoden das von
ihnen geliebte aber immer tiefere Krisen aufweisende islamische Regime gegen
seine „Feinde“ besser schützt; mit Zuckerbrot und Peitsche oder nur mit Peitsche.
Doch in letzter Zeit kommt es immer öfter und offener zu Streitigkeiten an der
Spitze des Regimes – dabei geht es grundsätzlich um die Pfründe und die
Aufteilung der „Beute“. Es kommt in Iran vor, dass Mitglieder höherer
staatlicher Positionen offiziell die „gerechte islamische Justiz“ auffordern,
Angehörige gegnerischer Fraktionen, die bei finanziellen Machenschaften dumm
und dreist auffallen, vor Gericht zu stellen und zu bestrafen!
Das Ergebnis des Zusammenkommens der oben aufgezählten Faktoren
(Arbeiterkämpfe, Internet-Aktivitäten der iranischen Jugend und Streitigkeiten
an der Regime-Spitze!) ist, dass gerade in den letzten Monaten eine Reihe von
Fakten über die in Iran grassierenden Wirtschaftskriminalität an die
Öffentlichkeit gelangten.
Da in dieser Zeitschrift („die internationale Nr. 1/2020 Dossier
Iran Seite 21–35) in fünf Beiträgen die Lage in Iran und auf S 25–27“ auch die
Problematik „Privatisierung“ thematisiert wurde, sei hier nur auf zwei kurze
Beispiele hingewiesen:
Haft-Tapeh
ist eine der größten Rohzuckeranbau- u. Raffinerieanlagen des Landes, die seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts existiert. Mit ihren Produkten konnte die Fabrik durch viele Jahre den heimischen Markt gut versorgen und ihren Produktionsüberschuss in die benachbarten Länder der Region ausführen. Als 2014/15 das Regime die Privatisierung von Haft-Tapeh beschloss und im Schnellverfahren durchsetzte, gingen ihre Beschäftigten auf die Barrikaden. In ihren Protestnoten erklärten die Streikenden u.a. die Privatisierung sei illegal, widerspreche den von der Regierung selbst festgelegten Vorschriften, die neuen Besitzer und Vorstandsmitglieder seien junge und unqualifizierte Männer, sie hätten den Betrieb nur übernehmen können, weil sie Beziehungen mit ganz oben haben und Söhne von sehr bekannten Würdenträgern seien. Dafür mussten sehr viele Arbeiter*innen und ihre Unterstützer*innen, Erniedrigung, Verhaftung, Folter und Gefängnisstrafen hinnehmen.
Massenverelendung, galoppierende Inflation, Wasserverknappung, fast täglich teurer werdende Grundnahrungsmittel in einem Land, in dem sogar laut offizieller Zahlen eine erdrückende Mehrheit der lohnabhängen Bevölkerung unterhalb des Existenzminimums lebt, sind Folgen der „Wirtschaftspolitik“, der islamischen Republik .
Nun vor ca. einem halben Jahr bekam die iranische Öffentlichkeit
über unterschiedlichste Kanäle aktuelle Informationen über Haft-Tapeh. Justiz-
u. Polizeiorgane des Regimes hatten solche Meldungen nur noch zu bestätigen und
zu ergänzen; Omid Assad Beygi als Vorstandschef und Rosstami Vorstandsmitglied von
Haft-Tapeh wurden mit mehreren anderen Personen wegen Wirtschaftsdelikte
verhaftet und warteten auf ihren Prozess. Etwas später wurde bekannt, Assad
Beygi sei gemeinsam mit weiteren 21 Personen wegen Wirtschaftskriminalität in
Haft, er sei der Kopf der Gruppe und die Anklageschrift gegen ihn würde 18
Ordner füllen. Ihm konkret wurde die Veruntreuung von 1,5 Milliarden (1.500.000.000!)
Dollar vorgeworfen, diese Summe habe er aus staatlichen Geldreserven mit
vergünstigten Konditionen erhalten, sie habe er aber mehrfach verteuert auf dem
„freien Markt (Schwarzmarkt) verkauft“, außerdem illegalen Geldtransfer
betrieben und so dem nationalen Währungssystem geschadet. Omid Beygi und Co. wird
weiterhin vorgeworfen, sie hätten einen Vertrag für den Import von einer
vollautomatisierten Maschinenanlage zur Raffinerie von 18 000 Tonnen
Rohzucker bis zur Endproduktion im Wert von 632 Mio. Dollar registrieren
lassen. Zur Realisierung dieses Projekts hätten sie 345 Mio. Dollar staatlicher
Gelder erhalten. Doch später sei bekannt geworden, der eigentliche Wert der
Anlage habe 14 Mio. Dollar betragen und zu einer Einfuhr der Anlage sei es nie
gekommen. Noch einen weiteren Punkt über die „Verfehlungen“ von Assad Beygi gab
die iranische Justizbehörde bekannt: Die von Assad Beygi und Co. registrierten
Firmen seien vor fünf Jahren ‒ also in der Zeit der Übernahme von Haft-Tapeh ‒ mit
51 Mio. Dollar Schulden und ohne Konkursmasse pleite gewesen, deshalb wären sie
weder in der Lage noch berechtigt so ein Geschäft (Übernahme von Haft-Tapeh!) zu
tätigen.
Während Herr Assad Beygi sich nach der Hinterlegung einer
entsprechenden Bürgschaft auf freiem Fuß befindet, sitzen Arbeiter*innen und
Aktivist*innen, die auf die Unregelmäßigkeiten bei der Privatisierung
aufmerksam gemacht hatten, heute immer noch im Gefängnis ‒ bzw. wurden erneut
verhaftet! ‒ oder befinden sich auf der Flucht und müssen sich vor den Augen
der Schergen des Regimes versteckt halten.
HEPCO
ist der Name einer Industrieanlage und liegt in der Stadt
Arak im Zentrum des Landes. HEPCO gehört wie Haft-Tapeh zu den größten
industriellen Anlagen Irans, existiert mehr oder weniger so viele Jahre wie
Haft-Tapeh und ist spezialisiert auf die Herstellung von schweren Maschinen und
Motoren von Spezialfahrzeugen für die Hoch- u. Tiefbauindustrie. HEPCO gelang
es sogar, sich vom Import von Motoren- u. Karosserieersatzteilen aus dem
Ausland größtenteils unabhängig zu machen und konnte den iranischen Eigenbedarf
größtenteils decken. Diese Fabrik fiel vor ca. 15 Jahren (2004/05) der
„Privatisierung“ zum Opfer. Bei der Ausschreibung ging ein Devisenhändler mit
dem Namen Ali Asghar Attarian ‒ er steht den höheren Etagen der Führung der
islamischen Republik nahe ‒ als Gewinner hervor. Die Privatisierung bescherte
der Fabrik noch ein „Geschenk“! Ein ehemaliger Minister für
landwirtschaftlichen Aufbau mit dem Namen Mahmud Hojati wurde samt seinen zwanzig
Stellvertretern als Vorstand von HEPCO eingesetzt und der jetzige Ölminister,
Namdar Zangane, übernahm das Amt des Vorstandsvorsitzenden.
Ähnlich wie ihre Haft-Tapeh-Kolleg*innen protestierte die
HEPCO-Belegschaft gegen die „Privatisierung“, organisierte ‒ den repressivsten
Bedingungen und den Attacken bezahlter Schlägertrupps trotzend ‒ Streiks,
Blockaden und Kundgebungen. Die HEPCO-Streikenden bezeichneten die
Privatisierung als Diebstahl und Todesurteil für ihren Betrieb. Das Regime
unterdrückte die Protestaktionen blutig, die Arbeiter wurden vor ihrem Betrieb
und auf offener Straße attackiert und schwer verletzt, ins Gefängnis geworfen
und auch dort gefoltert – Bilder und Videos der vom Regime misshandelten Streikenden
erreichten dank der Sozialen Medien die internationale Öffentlichkeit. Während
es den HEPCO-Beschäftigen so erging, kassierten die Herrschaften des Vorstands
Millionen von Euro. Und in welchem Zustand ist die Firma HEPCO heute? Da die
Folgen der Privatisierungen der letzten Jahre zu Top-Themen in Iran gehören,
war am 01.07.2020 in der iranischen Zeitschrift Shargh (der Osten), die
hauptsächlich Wirtschafsthemen behandelt, u.a. dies zu lesen: “…die jährliche
Produktionskapazität von HEPCO betrug vor 10 Jahren 2145 Tausend Baufahrzeuge
aller Art, sie ging im laufenden Geschäftsjahr auf 30 Stück zurück.“
Soziale u. politische Krisen
Massenverelendung, galoppierende Inflation (inzwischen ein unvorstellbarer
Wertverlust der iranischen Währung), Wasserverknappung (bedingt durch den
unverzeihlich verschwenderischen und sachunkundigen Umgang mit den Wasserreservoirs
eines Landes mit reichlichen Öl- u. Gasvorkommen, aber doch mit sehr knappen
Wasserreserven!), fast täglich teurer werdende Grundnahrungsmittel in einem
Land, in dem sogar laut offizieller Zahlen eine erdrückende Mehrheit der lohnabhängen
Bevölkerung unterhalb des Existenzminimums lebt, sind Folgen der
„Wirtschaftspolitik“, der islamischen Republik .
Die Corona-Pandemie traf die iranische Gesellschaft inmitten
dieser Krisen. Das Verhalten des Regimes angesichts der Seuche ist nicht nur
eine Mischung aus Ignoranz und Inkompetenz. Bei genauerer Betrachtung entsteht
der hartnäckige Verdacht, dass die Corona-Plage vom Regime bewusst und gewollt
als Waffe gegen Teile des iranischen Volkes eingesetzt wird. Zunächst begriff das
Regime die Gefahr, die von dem Virus ausging, ganz und gar nicht als ein Problem,
das dringende Maßnahmen in den Bereichen Gesundheitspolitik und Hygiene
erfordert. Seit März 2020 debattierte die ganze Welt über China als das Land,
das als Herd und Quelle von Corona feststand. Doch der Flugverkehr zwischen
Iran und China ging bis weit in den April hinein unvermindert weiter.
Täglich pendelten Hunderte iranische und chinesische Händler
zwischen Teheran und Peking und fungierten so als ein Mega-Verbreiter des Virus,
der in kürzester Zeit iranische Großstädte und später das ganze Land erfasste.
Weiter verschärfend kam hinzu, dass an der Spitze des Regimes lange Zeit
Uneinigkeit bei der Einschätzung und Behandlung der Krankheit bestand, die
täglich eine hohe Zahl an Menschenopfern forderte. Teile der
religiös-politischen Führung des Regimes vertraten die Meinung, Corona sei eine
Verschwörung der Feinde des Islams, Beten sei das beste Mittel dagegen und die
Gläubigen sollten heilige Schreine der Imame aufsuchen! So oder ähnlich sahen
die ersten „Maßnahmen“ des Regimes gegen Corona aus. Iran gehörte in den ersten
Wochen und Monaten der Pandemie zu den drei bis vier Ländern mit den höchsten
Todesraten. So makaber es auch klingen mag: Das Regime ist willens und in der
Lage, Corona gegen das „eigene“ Volk als Waffe einzusetzen.
Tausende politische Gefangene
Das „Vergehen“ der inhaftierten Frauen und Männer? Sie
beharren auf der Einhaltung der Grundrechte, sie werfen dem Regime Korruption
in höchstem Maße vor und sie kritisieren seine Außenpolitik, die vielleicht dem
Überleben des Regimes dienlich ist aber den iranischen Interessen kurz‑,
mittel- u. langfristig schadet. Die überfüllten iranischen Gefängnisse gehören
zu den gefährlichsten Brutstätten des Corona-Virus. Noch viel mehr als draußen
vor den Gefängnismauern, wo hygienisch-medizinische Versorgung für das „gemeine
Volk“ kaum zu haben ist, sind die innerhalb der Mauern festgehaltenen Menschen Bedingungen
ausgeliefert, die einem Todesurteil gleichkommen. Wie die politischen
Gefangenen aus den Gefängnissen berichten, werden Hunderte Menschen als
politische wie „gewöhnliche“ Gefangenen ohne Hygiene-Vorkehrungen und ohne
nennenswerte medizinische Versorgung in Großräumen eng zusammen gehalten. Frau Narges
Mohammadi, eine über die Grenzen des Landes bekannte Menschenrechtsaktivistin,
sitzt seit Jahren auf Grund unhaltbarer Anschuldigungen im Gefängnis, ist
krank, wurde neulich Corona-positiv getestet und wird weiterhin festgehalten.
Täglich werden immer wieder unschuldige Menschen ganz willkürlich festgenommen
und ins Gefängnis geworfen, weil sie irgendwann dem Regime als Kritiker*innen
oder als Menschen mit „politischer Vergangenheit“ aufgefallen sind und müssen
nun dafür büßen. So z. B. Sepideh Gholiyan, die als Internet-Journalisten und
Reporterin der Haft-Tapeh-Proteste auffiel, deshalb verhaftet wurde, über ein
Jahr Gefängnisstrafe und Folterhaft hinter sich hat und dann „frei“ war, wurde
im Juni 2020 erneut verhaftet. Viele weitere aber weniger prominente Frauen und
Männer sitzen in entlegenen Regionen des Landes im Gefängnis und sehen dem
„sanften Tod“ entgegen.
Die Faktenlage in Iran lässt folgende Schlussfolgerung zu:
Das Regime ist innenpolitisch am Ende der Sackgasse angekommen und seine
militärisch-politischen Abenteuer in der Region haben Milliarden von Petro-Dollar
verschlungen, ohne nennenswerten Nutzen zu bringen. Nun sieht es so aus, dass das
Regime aus einer Position innenpolitischer Schwäche und außenpolitischer
Isolation nach einem „strategischem Partner“ Ausschau hält. Wie in vielen
afrikanischen und asiatischen Ländern spielt die chinesische Wirtschaft seit
Jahren auch im Iran-Geschäft die erste Geige. In jüngster Zeit kam es wiederholt
zu Gerüchten, dass Iran und China über einen neuen Mega-Vertrag verhandeln. Das
iranische Regime steht den Gerüchten wohlwollend gegenüber und entfacht ihre
Verbreitung immer wieder neu. Das Regime will seine Gegner*innen und das sehr
unzufriedene und zugleich politisch motivierte iranische Volk auf folgende
Weise beeindrucken: Schaut her, ich bin erfolgreich, ich habe die Mächtigsten
dieser Welt als Partner auf meiner Seite und werde euch eine glorreiche Zukunft
bringen. Der chinesische Partner hält sich auffallend bedeckt und dies könnte
folgenden Grund haben: Die Chinesen wollen ihre westliche Konkurrenz (USA /EU)
nicht nervös machen und setzen sie nur portionsweise über den Umfang des
Vertrags in Kenntnis, außerdem wollen sie aus den iranischen „Partnern“, die auf
diese „strategische Partnerschaft“ sehr scharf sind, bis zum endgültigen
Vertragsabschluss noch mehr Zugeständnisse herauspressen.
Nach bisherigen Kenntnissen und bezugnehmend auf einen
„Vorentwurf“, den das iranische Staatsfernsehen Mitte Juli 2020
veröffentlichte, sei hier auf die wichtigsten Passagen hingewiesen:
„1) Die islamische Republik übernimmt die vollständige
Tilgung ihrer Schulden in Form von Öllieferungen und zwar 30 Prozent
unterhalb des regulären Preises, die Buchführung darüber liegt allein in der
Hand der chinesischen Zentralbank. 2) Zoll- u. Steuerfreiheit für chinesische
Waren, die in Iran importiert werden, die Verantwortung für ihre Lagerung und
ihre Sicherheit trägt die iranische Seite. 3) Die chinesische Seite trägt keine
Verpflichtung, auf ihren Anlagen und Einrichtungen in Iran einheimische Kräfte
einzustellen. 4) Rechte, Seewege im iranischen Seegebiet zu benutzen, dort
Fischerei zu betreiben und nach See- u. Bodenressourcen im Seegebiet des
iranischen Seehafens Bandar-Tscha-Bahar im Persischen Golf zu „forschen“,
werden der chinesischen Seite zugesprochen. 5) Für die Verwirklichung der
Vereinbarung ist zunächst vorgesehen, dass 5000 chinesischen Fachkräfte nach
Iran kommen. 6) Die chinesische Seite verspricht Investitionen in die iranische
Infrastruktur zu tätigen …“
Über den bisher bekannt gewordenen Inhalt des Vorvertrages
wird innerhalb der iranischen Opposition sehr heftig diskutiert. Auf der einen
Seite akzeptieren ihn die iranischen „Blockdenker*innen“ (Campist*innen) dezent
und unterschwellig. Sie argumentieren u.a. folgendermaßen: Der Vertrag sei ja
noch nicht ganz fertig, Verbesserungen könnten ja noch kommen und außerdem: Warum
sollten solche Verträge nur mit westlichen Ländern geschlossen werden, China
sei ein östlich-asiatisches Land, habe „mit uns“ gemeinsame kulturelle und
historische Wurzeln und einen strategischen Partner brauche eigentlich jedes
Land …
Auf der anderen Seite regen sich iranische säkular-demokratisch
und liberale (also pro westliche) Kräfte furchtbar über den bis jetzt publik
gewordenen Inhalt auf; sie fordern die sofortige Annullierung des Papiers,
verurteilen die beiden diktatorischen Regierungen und verlangen von den
„demokratischen“ Ländern, den bald unterschriftsreifen Vertrag zu Fall zu
bringen und die demokratischen Kräften im Kampf gegen Diktatoren zu
unterstützen.
Es gibt jedoch genug iranische Stellungnahmen und Analysen
im In- u. Ausland, die von der Position iranischer Interessen aus das neue
Abenteuer des Regimes begutachten. Während die Kommentare im Ausland im Schutze
der geographischen Entfernung und aus sicherer Distanz abgegeben werden,
riskieren die kritischen Analysten in Iran dafür ihre Freiheit, ja ihr Leben – und
trotzdem tun sie das. Aus der Vielzahl solcher Analysen greifen wir ein Interview
heraus, das ein iranischer Ökonomie-Dozent am 20.07.2020 im Internet
veröffentlichte (sein Name ist der Redaktion bekannt). Mit dem Hals in der
Schlinge äußerte er sich über den „Vorvertrag“. Hier eine kurze
Zusammenfassung:
„Wir gehören in den letzten drei Jahrzehnten zu den Ländern
mit der höchsten Fluchtrate von menschlichem und materiellem Kapital in Richtung
Ausland. Ein Land, das seine eigenen inneren Fähigkeiten zu nutzen nicht in der
Lage ist, will nun von ausländischen Kapitalinvestitionen profitieren? China
hat versprochen zwischen 280 – 400 Milliarden Dollar zu investieren. Anstatt
ausländisches Kapital zu Investitionen einzuladen, sollten wir zuerst im Lande
existierende Fähigkeiten aufbauen und erhöhen (…) Außerdem: Die Neigung
chinesischer Investoren deutet darauf hin, dass sie am Kauf von Rohstoffen
interessiert sind (…) Auf Grund unserer vorliegenden Forschungsarbeiten betrugen
die Direkteinnahmen Irans in den Jahren 2004–2017 aus den Export-Geschäft 2180
Milliarden Dollar. Es wäre besser und sinnvoller erst das, was in der
angekündigten Urkunde der iranisch-chinesischen Zusammenarbeit versprochen
wird, aus den eigenen vorhandenen finanziellen Möglichkeiten zu schöpfen, die
drei bis sechs Mal höher liegen als die von der chinesischen Seite versprochene
Summe. Sogar in der Zeit von Herrn Rouhani in den Jahren 2013 – 2017 hatten wir
aus derselben Einkommensquelle 317 Milliarden Dollar Direkteinnahmen…“ Der
iranische Dozent schließt das Interview: „Hatte denn Iran in den letzten 200
Jahren bei diversen Vertragsabschlüssen mit fremden Mächten irgendwelche
Vorteile? Wenn Großmächte strategische Partner haben, dann sind das jeweils ihre
eigenen Interessen und niemand sonst, vergessen wir das nicht!“
Die Region des Persischen Golfs und seiner Anrainerstaaten stehen
im Mittelpunkt der imperialen Gesamtkonzeption der USA. Seit dem Ende des II.
Weltkriegs üben sie dort unangefochten die Rolle der „Schutzmacht“ aus. Nun hat
sich ihr asiatischer Rivale in einem der wichtigsten Länder der Region festgesetzt
und kann von dort aus seine Fühler ausstrecken. Diese vollendete Tatsache macht
den US-Imperialismus nervös, lässt ihn toben und immer lauter Drohungen
aussprechen. Die Spannungen zwischen den USA als Supermacht auf absteigendem
Ast und China als energiedurstige und markthungrige aufstrebende Großmacht sind
global und können noch viel größere Dimensionen erreichen. Aber die
US-Sanktionen gegen Iran ‒ die in erster Linie den Lebensgrundlagen der
untersten Schichten der iranischen Gesellschaft schwerste Schäden zufügen ‒
sind gegen die Führung der islamischen Republik als Nadelstiche gedacht und
sollen sie zur „Vernunft“ bringen. Aber da das Regime und das iranische Volk
längst geschiedene Leute sind, begibt sich das Regime aus einer erbärmlichen Lage
der Angst und Schwäche unter dem Schutzschirm einer nicht minder gefährlichen Supermacht
und wirft ihr als Gegenleistung wichtige Ressourcen des Landes in der Hoffnung
vor die Füße, damit dem eigenen Regime das Überleben zu garantieren. Ganz
gleich, ob sich nun die Spannungen zwischen den USA und China verschärfen oder
beruhigen, ist das iranische Regime als dummer Händler und Marktschreier bereits
jetzt der definitive Verlierer dieses Spiels.
Der Widerstand:
Die iranische Widerstandsbewegung blickt auf eine mehr als
vier Generationen alte Erfahrung des politischen Kampfes gespickt mit
ermutigenden Erfolgen und bitteren Niederlagen. Es sind mutige und
bewundernswert informierte Frauen und Männer, die heute vom Gefängnis aus, am
Arbeitsplatz, auf der Straße und im Untergrund den Kampf gegen das mörderische
Regime organisieren und anführen. Ihnen genügt es nicht mehr, die groben Menschenrechtsverletzungen
des Regimes anzuprangern, die im Land wütende Wirtschaftskriminalität zu
verurteilen oder die dümmliche Außenpolitik des Regimes aufs Korn zu nehmen.
Gestützt auf die konkreten Lehren des Volksaufstandes von Februar 1979, als dem
Sturz einer Ein-Mann-Diktatur (Schah-Regime) eine Diktatur der schiitischen
Kleriker folgte, erklären sie: Der politische Übergang (damals hieß es:
„Hauptsache zuerst das jetzige blutrünstige Regime loswerden“!) allein reicht
nicht; politische Freiheit, soziale Gleichheit und Schutz vor Einflussnahme und
Einmischung asiatischer, amerikanischer und europäischer Großmächte. Es geht
auch um die Beantwortung der folgenden Frage: Welche gesellschaftlichen Kräfte
haben während der Übergansphase die Führung, sind verantwortlich und bieten
Garantien?
Dies sind die Themen, die die iranischen Aktivist*innen
neben dem offenen Kampf gegen das Regime beschäftigen. Seit mehr als 10 Jahren
macht sich die Präsenz der iranischen Arbeiter*innen-Bewegung in den ersten
Reihen der Kämpfe deutlich bemerkbar. Besonders während der letzten zwei Jahre,
in der zwei große Protestwellen weite Teile des Landes erfassten und in denen unzufriedene,
betrogene und hungernde Schichten auf die Straße gingen, waren Slogans, Parolen
und Forderungen zu hören, die hauptsächlich aus den Streiks, Portesten und
Verlautbarungen der Arbeiter*innen stammten.
Im Sommer 2020 machten die Beschäftigten von Haft-Tapeh
durch ihre zweite große Streikwelle auf sich aufmerksam. Dienstag 27.07.2020
war der 45. Tag ihres Streiks und als diese Zeilen geschrieben werden
(01.0820!) dauert ihr Streik noch an. Ihre Forderungen lauten u.a.:
1.) Sofortige Auszahlung der Löhne und Gehälter der
Beschäftigten, die seit Beginn des Jahres (März 2020) nicht überwiesen wurden! 2.)
Sofortige Einstellung der entlassenen Kolleg*innen! 3.) Sofortige
Wiederverhaftung von Assad Beygi! 4.) Enteignung der korrupten und rechtswidrig
eingesetzten „Haft-Tapeh-Besitzer“ und Rückgängigmachung der Privatisierung.
Neben den Streiks, die in großen und kleineren Betrieben
täglich stattfinden, kam es ebenso in den Sommermonaten 2020 wieder in vielen
iranischen Städten zu Protestaktionen, wovon auch ausländische Medien
berichteten (z. B. SZ am 21.07.20).
Die Reaktion des Regimes besteht einzig und allein in der
Verschärfung der Repressalien. Mit wahllosen Festnahmen, der Ermordung von
politischen Gefangenen, die seit Jahren schuldlos in Haft sind und den
willkürlichen Festnahmen versucht das Regime Angst und Schrecken zu verbreiten.
Dies sehen nicht nur kritische und unabhängige Beobachter*innen so. Teile des
Regimes warnen sogar: „Sobald die Corona-Krise etwas abgeflaut ist, sind große
Unruhen zu befürchten.“
Anfang August 2020
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