Aufgrund des Versagens der Marktwirtschaft ist dies dringender denn je erforderlich und angesichts der fortgeschrittenen Informationstechnologie auch machbar. Zugleich liegt darin die Voraussetzung, für eine von der Diktatur des Kapitals befreite Gesellschaft einzutreten, in der die Grundbedürfnisse befriedigt und demokratisch entschieden werden können und gleichzeitig die Umweltkrise angegangen werden kann. Das ist der Inhalt des Interviews, das Romaric Godin mit Cédric Durand geführt hat.
Diese beispiellose Krise im Zusammenhang mit dem Coronavirus veranschaulicht deutlich die Grenzen der Marktwirtschaft bei der gesellschaftlichen Entwicklung und damit die Notwendigkeit einer Planwirtschaft. Wie bewerten Sie die Situation?
Cédric Durand: Jahrzehntelang wurden in den Zeiten
des Neoliberalismus der Marktwirtschaft alle möglichen Tugenden zugeschrieben:
Effizienz in der Ressourcenzuteilung, dynamischer Wettbewerb, Produktdifferenzierung
der Konsumgüter etc. Die aktuelle Krise hat deutlich gemacht, dass die Marktwirtschaft
auch ihre ernsthaften Grenzen hat.
In Notsituationen kann die Wirtschaftstätigkeit nicht durch die
Preisgestaltung angemessen koordiniert werden. Durch das Chaos der Märkte können
eigentlich überschaubare, aber zwingend gebotene Ziele nicht erreicht werden: die
Herstellung von Masken, Desinfektionsmitteln, Screening-Tests und Atemschutzgeräten
oder die Verteilung von Medikamentenvorräten. Da besteht ein klarer Bedarf an
Zentralisierung. Der allgemeine Ruf nach Hilfe ergeht an die öffentliche Hand: eine
Forderung nach einem kollektivem Vorgehen, die über die privaten Akteure hinausgeht
und sich ihnen auferlegt. Dies entspringt einer Logik der wirtschaftlichen
Prioritätensetzung, die im Widerspruch zum trial-and-error-Prinzip des Marktes steht.
Tatsächlich wäre es vernünftig, die Aktienmärkte zu schließen, anstatt zuzulassen, dass ihre Volatilität das Chaos noch verschlimmert.
Dieser relativ anomische Charakter des Marktes wird durch
dessen kurzfristige Orientierung noch verschärft, die es ihm unmöglich macht,
langfristig zu planen. Es mangelt an Reagenzien zur Herstellung von Tests, weil
diese in Asien hergestellt werden. Aber warum wurde diese Produktion verlagert?
Weil die Unternehmen ihre Kosten rationalisiert und ihre Wertschöpfungsketten
optimiert haben.
Sofortige Einsparungen sind erforderlich, um dem
Wettbewerbsdruck und den Rentabilitätsvorgaben der Finanzmärkte gerecht zu
werden. Ein solches Verhalten ist aus statischer Sicht effektiv, die Kehrseite
besteht aber in einer dynamischen Ineffizienz. Punktgenaue Vorgaben an die
Lieferketten, breit verstreute Produktionsprozesse und geringe strategische
Reserven machen das soziale und produktive Gefüge verwundbar und hindern es
daran, sich an plötzliche Veränderungen der Umstände anpassen zu können. Es ist
inzwischen anerkannt, dass Belastbarkeit auch Redundanz erfordert oder, anders
ausgedrückt, dass kurzfristige Effizienz eine fehlende Belastbarkeit zur Folge
hat.
Unabhängig davon, ob es sich um Dringlichkeit oder
Belastbarkeit geht, stellt sich letztlich das Problem der Zentralisierung der
wirtschaftlichen Koordination. Mit dem Neoliberalismus wurde den Finanzmärkten
die Aufgabe übertragen, die vielfältigen Pläne der Unternehmen und
Einzelpersonen in Einklang zu bringen. Um langfristig zu planen oder einen
plötzlichen Einbruch zu bewältigen, sind die Märkte jedoch ungeeignet. Wenn die
Aussichten völlig im Dunkeln oder Probleme in weiter Ferne liegen, verhalten
sie sich erratisch: Ihre Blindheit gegenüber der Katastrophe des Klimawandels veranlasst
die Märkte, weiterhin unverwertbare fossile Brennstoffvorkommen zu erschließen,
und die abrupten Kehrtwendungen der letzten Tage zeigen, dass sie die aktuelle
Krise nicht verstehen können.
In der jetzigen Situation ist das Starren auf kurzfristige
Profite, das den Investoren als Kompass dient, sicher nicht das richtige.
Tatsächlich wäre es vernünftig, die Aktienmärkte zu schließen, anstatt
zuzulassen, dass ihre Volatilität das Chaos noch verschlimmert.
Sie fordern mehr
Staat, aber was wir vor allem sehen, ist, dass die öffentliche Hand auf die Situation
nicht eingestellt ist …
Wo ist die Zentrale im Kampf gegen die Pandemie? Welche Stellen
sind für die Erfassung der Ressourcen und deren Verteilung zuständig? Warum
erfolgt in Frankreich die Beteiligung der Industriellen an diesen Aufgaben auf
freiwilliger Basis und nicht durch Zwangsverpflichtungen? Was diese Krise
offenbart, ist in der Tat die Ohnmacht der öffentlichen Hand.
Der Wirrwarr an der Spitze des Staates zeugt nicht bloß von
der mangelnden Kompetenz der Regierungsmannschaft. Jahrzehntelange Sparpolitik
und die Umstrukturierung der öffentlichen Verwaltung haben dazu geführt, dass
sie jetzt unfähig sind, angemessen auf die vitalen Interessen der Menschen zu
reagieren und ihnen nachzukommen.
Das Problem liegt sowohl in den fehlenden Mitteln als auch
an der Demoralisierung. Indem man sie schlecht behandelt und bezahlt und oft
diskreditiert hat, sind die Beamten und Angestellten in der öffentlichen
Daseinsvorsorge nunmehr wenig motiviert, ihre Aufgaben ordnungsgemäß zu
erfüllen. In den Krankenhäusern und Pflegeheimen müssen die Menschen mit einer
zunehmenden Zahl vermeidbarer Todesfälle nun der Preis dafür bezahlen.
Mittlerweile ist allen klar, dass der öffentliche Dienst ein Gemeingut ist, auf das jede und jeder unter allen Umständen zählen und zurückgreifen kann, weil es allen gehört.
Die Situation der vereinsamten und gefährdeten Menschen ist
ebenfalls sehr besorgniserregend, da die sozialen Dienste abgebaut wurden und
den lokalen Behörden immer weniger Mittel zur Verfügung stehen. Dies gilt aber
auch für andere Bereiche der öffentlichen Verwaltung. Zum Beispiel verfügt die
Gewerbeaufsicht nicht über die Mittel, um sicherzustellen, dass die
Beschäftigten ihrer Arbeit unter wirklich geschützten Bedingungen nachgehen
können.
Auch die jahrelang angesammelten Defizite des
Bildungssystems kommen in diesen unruhigen Zeiten zum Tragen, wenn auch
mittelbarer und weniger dramatisch. In Schulen und Universität wurde viel zu wenig
in die Digitalisierung investiert, so dass die Voraussetzungen für eine
geordnete Umstellung auf zeitweiligen Digitalunterricht überhaupt nicht gegeben
waren und die Familien und Lehrerkollegien in eine groteske Situation gerieten.
Kurzum: Außer dass die Corona-Krise die Grenzen der Märkte
aufzeigt, macht sie zugleich deutlich, dass die öffentlichen Dienste dringend
benötigt werden. Mittlerweile ist allen klar, dass der öffentliche Dienst ein
Gemeingut ist, auf das jede und jeder unter allen Umständen zählen und
zurückgreifen kann, weil es allen gehört.
Diese kurzfristigen
Erfordernisse machen demnach eine Planung notwendig. Dennoch werden weiterhin
viele dagegenhalten, dass eine solche Produktionsplanung nicht möglich sei,
weil die Welt zu komplex ist. Aber nach Ihrer Auffassung verfügen wir
inzwischen über die technischen Mittel, um dieser Komplexität Rechnung zu
tragen …
Der größte Einwand gegen die Planwirtschaft ist ihre
angebliche Ineffizienz in der Informationsverwaltung. So argumentiert namentlich
der neoliberale Vordenker Friedrich Hayek, für den der Markt ein sozialer
Mechanismus ist, der verstreute Informationen sowohl aufdecken als auch
verarbeiten kann: Dank dieser Informationen können die Akteure die unendliche
Komplexität des Sozialen überwinden und Entscheidungen treffen.
Gegen diese neoliberale Ansicht sprechen sowohl praktische
als auch theoretische Gründe. Auch wenn es ein wenig trivial erscheint, müssen
wir uns zunächst daran erinnern, dass die Planwirtschaft sehr wohl funktioniert:
Nicht der Markt organisierte die Kriegsanstrengungen der USA gegen die Nazis,
sondern eine geplante Kriegswirtschaft. In Frankreich beruhten der Wiederaufbau
und der Aufholprozess nach der Befreiung auf einer Planung, die zwar eher
Richtlinien vorgab, die aber sehr verbindlich waren, insbesondere durch
Kreditvergaben.
In der stalinistischen UdSSR ermöglichte die Planwirtschaft
– auf Kosten einer beispiellosen Brutalisierung der Gesellschaft – eine rasche
Industrialisierung. Und auch heute ist die Planwirtschaft noch längst nicht
abgeschafft: In China entwirft die mächtige Nationale Entwicklungs- und
Reformkommission (NDRC) weiterhin Fünfjahrespläne, die ausschlaggebend bei der
Steuerung der sozioökonomischen Entwicklung sind.
Das grundlegende Problem, vor dem eine Planwirtschaft heute steht, ist nicht mehr die eingeschränkte Informationstechnologie, sondern die demokratische Verarbeitung dieser Algorithmen, die immer mehr in der Hand einiger weniger Monopolunternehmen liegen.
Andererseits trifft zu, dass ab Ende der 1960er Jahre in den
Ländern des Ostens die Gesamtplanungsmechanismen zunehmend deutlichere
Anzeichen einer Dysfunktionalität offenbarten. Die zunehmende
Ausdifferenzierung der Wirtschaftsprozesse und der gesellschaftlichen Ansprüche
stellte die Planwirtschaft vor zwei entscheidende Hürden: die mangelnde
Demokratie und begrenzte Rechenkapazitäten. Das mangelnde Demokratie führte zu
einer unausgewogenen Entwicklung, zu einer Diktatur über die Bedürfnisse, um
einen Ausdruck der Philosophin Ágnes Heller zu gebrauchen, in der die
Erfordernisse des militärisch-industriellen Sektors die der Bevölkerung
erdrückten und alle ökologischen Bedenken erstickten, derer man sich in der
Zeit nach der russischen Revolution sehr wohl bewusst war.
Die zweite Hürde liegt in der Informationstechnologie, was
eben auch Hayek monierte. Da die Informationstechnologie noch in den
Kinderschuhen steckte und nicht verfügbar war, geriet die bürokratische
Handhabung der Planwirtschaft immer schwerfälliger, extrem zeitaufwändig und mit
zahlreichen Fehlern, Zeitverzögerungen und Manipulationen behaftet. Vor allem
der Umgang mit der Unsicherheit (der wirtschaftlichen Perspektiven) war
hochproblematisch: Es dauerte lange, bis unvorhergesehene Ereignisse die
Entscheidungszentren erreichten, was zu chronischen Ungleichgewichten und massiven
Verschwendungen führte, was wiederum zusätzlich zu den Funktionsstörungen
Parallelkreisläufe entstehen ließ.
Aber wir leben nicht mehr in der Steinzeit der
Informationstechnologie! Heute werden die meisten wirtschaftlichen
Informationsprozesse automatisch auch digital erfasst. Damit entfällt das
Argument hinsichtlich der Informationsverarbeitung weitgehend. Faktisch greift
auch der private Sektor massiv auf eine Art Planwirtschaft zurück. Amazon oder
Walmart verarbeiten heute unendlich mehr Daten als der sowjetische Gosplan.
Diese multinationalen Unternehmen verfügen über die Mittel, ihre
Geschäftsprozesse in Echtzeit an die Wandlungen der Marktbedingungen
anzupassen. Das grundlegende Problem, vor dem eine Planwirtschaft heute steht,
ist nicht mehr die eingeschränkte Informationstechnologie, sondern die
demokratische Verarbeitung dieser Algorithmen, die immer mehr in der Hand
einiger weniger Monopolunternehmen liegen.
Zudem muss man Hayek entgegenhalten, dass es eine Art von
Wissen gibt, das der Markt komplett ignoriert, und das ist das Wissen, das aus
Überlegungen entsteht. Um nicht kalkulierbare Risiken abzuschätzen, ökonomische
und ökologische Kriterien gleichermaßen zu berücksichtigen, unter der Maßgabe der
sozialen Beziehungen Entscheidungen zu treffen, dabei hilft die durch
Marktprozesse vermittelte individuelle Entscheidungsfähigkeit nicht weiter. Stattdessen
müssen die verschiedenen Standpunkte durch den Austausch von Argumenten über
eins gebracht werden.
Um auf die gegenwärtige Situation zurückzukommen, hilft es
nicht, zu sagen, dass die Produktionsweise zu komplex ist, um eine Planung zu
erstellen, die in der Lage ist, auf drängende Erfordernisse zu reagieren. Im
privaten Sektor gibt es extrem mächtige Instanzen, die die Informationen
bündeln, wie etwa Google. Aber auch die großen Automobil‑, Einzelhandels- und
Elektronikkonzerne kontrollieren Informationssysteme, die ihnen einen Überblick
über die Aktivitäten und Bestände auf den verschiedenen Stufen der
Wertschöpfungsketten geben. Mit anderen Worten: Wenn der politische Wille dazu
vorhanden ist, können die staatlichen Behörden diese Fähigkeiten entlang zentral
vereinbarter Prioritäten nutzen.
Für die Zukunft
scheint dieser Planungsbedarf unerlässlich zu sein, gerade weil er es
ermöglicht, mit Risiken umzugehen, die vom Markt nicht berücksichtigt werden
können.
Die Krise infolge der Covid-19-Pandemie lehrt uns einmal
mehr, dass wir auch sowohl als Gemeinschaft wie als Spezies kollektiv denken
und reagieren müssen. Dies ist kein individuelles Gebot, und es ist müßig, sich
auf die Rationalität der Verbraucher zu verlassen. Sondern dies ist ein
Warnsignal. Wir müssen uns künftig nicht nur verantwortlich um die Verhütung
und Bewältigung des Risikos einer Pandemie kümmern, sondern auch um den Umgang
mit der Fragilität unserer Gesellschaft. Ein größeres Bewusstsein für die Bedeutung
unserer gegenseitigen sozialen Beziehungen und für unsere Interdependenz mit
der Biosphäre sollte Grund genug für uns sein, den Markt auf die hinteren Ränge
zu verweisen.
Welche Art von
Planung wäre nun genau geeignet, auf diese neue Situation reagieren?
Das sowjetische Modell hat Probleme hinsichtlich der inneren
Demokratie und der Anpassung der Produktivkräfte verursacht. Das französische
Planungsmodell war insofern interessant, als dort darüber beraten wurde, wie
die Marktwirtschaft besser koordiniert werden könnte. Dies könnte ein
Übergangsmodell sein. Aber unerlässlich ist, dass die Planwirtschaft der
Zukunft unbedingt demokratisch sein muss. Planung für ein Land oder für ein
Gebiet bedeutet, sich für eine gemeinsame Zukunft zu entscheiden. Dies
erfordert ein Höchstmaß an Demokratie.
Man muss auch bedenken, dass sich die Planwirtschaft auf
Zentralwirtschaft reimt, aber trotzdem dezentrale Belange berücksichtigen muss:
Bei gleichen Problemen oder gleichen Zielen muss es den einzelnen Territorien
erlaubt sein, mit verschiedenen Lösungen zu experimentieren. In Frankreich ist
die Atomkraft ein ideales Gegenbeispiel: Die geplante Entwicklung dieser
Industrie hat zu einer gefährlichen Form einseitiger Abhängigkeit geführt.
Planung im 21. Jahrhundert bedeutet daher, ein „Ökosystem“ zu schaffen, in
dem die Institutionen auf dem Beratungsweg ermöglichen, über wirtschaftliche
Prioritäten zu entscheiden und eine Vielfalt von Produktions- und Konsumweisen
zu erhalten. An diesem Thema arbeiten wir seit zwei Jahren mit anderen Soziologen
und Ökonomen im Rahmen einer Seminarreihe mit dem Titel „Die Kommune planen”.
… und der Lockdown
führt dazu, das Verhältnis zwischen notwendiger Planung und unseren Freiheiten
neu zu überdenken. Wenn wir heute unserer Freizügigkeit beraubt werden, liegt
das letztlich an mangelnder Planung?
Ja, das ist eine berechtigte Frage. Für die Liberalen
bedeutet Freiheit immer eine individuelle Garantie für Rechtssicherheit und ihr
Geld. Inzwischen reift jedoch die Einsicht, dass Freiheit auch auf kollektiven
Garantien beruht, zu denen namentlich ein starker öffentlicher
Gesundheitssektor gehört.
Wird die gegenwärtige
Lage tatsächlich zu einem Wandel der ökonomischen Rahmenbedingungen führen?
Meiner Meinung nach ist die herrschende Ideologie durch die aktuellen
Ereignisse stark ins Wanken geraten. Am 23. März zum Beispiel hat die
Chefökonomin der OECD, Laurence Boone, in einem Beitrag in der Financial Times eine Position vertreten,
die noch vor wenigen Wochen völlig undenkbar war. Sie schlägt vor, dass „die
Steigerung der öffentlichen Ausgaben durch eine dauerhafte Erhöhung der Geldmenge
finanziert werden sollte, die von den Zentralbanken geschaffen wird und die die
schuldenfinanzierte Programme ersetzen könnte”. Und sie pocht darauf, dass
„diese Vorgehensweise keine Inflationsängste schüren soll, solange das Wachstum
unter seinen Möglichkeiten bleibt”. Mit anderen Worten, es geht darum, uns
die finanziellen Mittel an die Hand zu geben, um die sozialen und
wirtschaftlichen Folgen der gegenwärtigen Krise zu heilen, ohne auf die Märkte
zurückzugreifen und ohne die Staatsverschuldung zu erhöhen. Eine solche Aussage
widerspricht völlig dem Dogma der „gesunden Finanzen”, das in Wirklichkeit
darauf abzielt, dem Privatsektor ein Monopol auf die Finanzierung der
Wirtschaft zu sichern. Kurzum verwirft sie das Argument, wonach die Staaten
fiskalisch verantwortungsvoll handeln und keine „Schuldenlast für unsere
Enkel” hinterlassen sollten, welches uns bis zum Überdruss zur Rechtfertigung
der Sparpolitik und zur Kürzung öffentlicher Dienstleistungen serviert wird.
Um es ganz offen zu sagen: Es wäre unverantwortlich, jetzt, wo die Flugzeuge am Boden bleiben, den Luftverkehr wieder auf den Stand vor der Krise bringen zu wollen.
Im Grunde gibt eine solche Position der Modern Monetary Theory (MMT) Recht, die
stets darauf betont, dass es keine finanziellen Zwänge für den Wohlstand gibt,
sondern nur reale Zwänge. Die natürlichen Ressourcen, Fertigkeiten,
Produktionsmittel und natürlich die Menschen, die für die Arbeit zur Verfügung
stehen, sind die einzigen wirklichen Grenzen des kollektiven Reichtums.
Diese Krise schiebt also wirtschaftspolitische Instrumente in den
Vordergrund, die bisher als obsolet galten. Insofern ist die Krise
verständlicherweise eine Gelegenheit, ein für alle Mal mit dem Neoliberalismus
zu brechen. Aber wir dürfen uns keine Illusionen machen. Ohne soziale und
politische Kämpfe wird sich nichts ändern. Und wenn wir uns die momentan locker
gemachten Gelder betrachten, stellen wir fest, dass es wieder einmal die
Finanzmärkte, der Bankensektor und die Großkonzerne sind, denen die größte
Unterstützung seitens der Zentralbanken zuteil wird.
Das Ziel der Herrschenden ist nach wie vor, die Wirtschaft in ihrer jetzigen
Struktur zu retten. Diese Struktur ist in erster Linie eine ungleiche, da die
Priorität immer bei den Unternehmen und Investoren liegt und die Eindämmung der
sozialen Verelendung erst an zweiter Stelle steht und für die Ärmsten das
soziale Auffangnetz erhebliche Löcher aufweist. Daneben geht es um eine
strukturelle Produktionsweise und der Staat wird sich niemals dazu hergeben, auf
die Entscheidung, was wie produziert werden soll, Einfluss nehmen zu wollen.
Am Schlimmsten wäre es, weiterhin eine unterschiedslose Stützung der
Wirtschaft zu betreiben, so wie nach 2008 nur ein Weiter so betrieben wurde und
die staatlichen Behörden eine ins Wanken geratene Dominanz der Finanzwirtschaft
unterstützt haben. Um es ganz offen zu sagen: Es wäre unverantwortlich, jetzt,
wo die Flugzeuge am Boden bleiben, den Luftverkehr wieder auf den Stand vor der
Krise bringen zu wollen. Dasselbe gilt für die Automobilindustrie oder für die
Produktion von Pestiziden. Klar ist, dass der Schutz der Beschäftigten Vorrang
haben muss. Unmittelbar danach muss es um die Umstrukturierung der schädlichen
Wirtschaftssektoren und ein Investitions- und Entwicklungsplan für die
Industriezweige gehen, die momentan als lebenswichtig gelten.
Die jetzt verschwenderisch eingesetzten Mittel zeigen, dass man sehr wohl massiv
und gezielt in die Wirtschaft eingreifen kann. Die politische Dringlichkeit
besteht darin, dafür zu sorgen, dass diese „leichte Hand“ eine Gelegenheit
darstellt, die Wirtschaftsentwicklung in neue Bahnen zu lenken, nämlich in
einen wieder gestärkten öffentlichen Dienst, in nützliche und hochwertige
Arbeitsplätze, in regionale statt globalisierte Produktion und in die Erhaltung
der Biosphäre. Kurzum, geht es bei dieser Krise nicht darum, die Wirtschaft zu
retten, sondern ihre Transformation zu planen.
Cédric Durand ist Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied des Redaktionskomitees von Contretemps.
Übersetzung: MiWe
Mehr Demokratie wagen?