Das Homeshoring, wie sich
dieser Trend nennt, habe sich zu einer “spannenden alternativen
Organisationsform” entwickelt, “wenn andere Kostensenkungsprogramme
ihr Ziel verfehlt haben”, so der Unternehmensberater Ingo Scheidweiler zur
Heimarbeit als Rationalisierungsmethode.
In ihrem Buch Gegen Trump. Wie es dazu kam und was wir jetzt tun müssen. (2017) greift Naomi Klein auf das zurück, was sie in ihrem 10 Jahre zuvor erschienenen gleichnamigen Buch Die Schock-Strategie genannt hatte: „Eine „Schock-Strategie“ ist ein Bündel von taktischen Grausamkeiten, die darauf abzielen, die Konfusion in der Bevölkerung nach einem kollektiven Schock […] systematisch auszunutzen, um extreme Maßnahmen zugunsten der Großkonzerne durchzusetzen, Maßnahmen, die oft als „Schocktherapie“ bezeichnet werden.“ Zweifellos ist die Covid-19-Krise ein besonders spektakuläres Beispiel für einen solchen Prozess, bei dem die herrschenden Klassen versuchen, ihre Positionen brutal durchzusetzen, indem sie sich die Folgen der kollektiven Schockstarre zunutze machen, die bei jeder Krise solchen Ausmaßes auftritt. Frankreich ist in dieser Hinsicht ein Beispiel aus dem Lehrbuch.
Natürlich ist es nicht unser Anliegen, die wabernden Verschwörungstheorien aufzugreifen, von denen eine obskurer ist als die andere und die glauben machen wollen, dass die herrschenden Klassen die Covid-Krise „provoziert” oder gar „organisiert” haben, um somit ihre politischen Schweinereien zu legitimieren. Aber nichtsdestotrotz müssen wir uns darüber klar sein, dass die gegenwärtige Krise eine enorme Chance für die Bourgeoisie und ihre politischen Sachwalter*innen darstellt, um im Namen einer „Ausnahmesituation” sozialfeindliche Maßnahmen durchzusetzen (längere Arbeitszeiten, niedrigere Löhne, Einschränkungen der demokratischen Rechte etc.), wobei solche unpopulären Maßnahmen als „vorübergehend” ausgewiesen werden, während sie in Wahrheit auf Dauer angelegt sind.
Die Ausnahme wird zum Normalzustand
In diesem Zusammenhang sei an die Ereignisse in Frankreich
in den zwei Jahren von November 2015 bis November 2017 erinnert, in denen der
nach den Anschlägen vom 13. November verhängte Ausnahmezustand immer
wieder verlängert wurde, bevor schließlich die meisten Bestimmungen in das
allgemeine Recht überführt und somit normalisiert wurden. In diesen beiden
Jahren hielten Hollande und Valls daran fest, dass der Ausnahmezustand aufrecht
erhalten werden müsse, wobei sie immer Gründe fanden, Maßnahmen zu verlängern,
die nach ihrer Lesart durch den „Notstand” legitimiert seien. Macron,
Castaner und Konsorten standen dem nicht nach und beendeten diesen „Normalisierungsprozess“
im Herbst 2017 mit einer Erklärung des Innenministers: „Ich bin der Ansicht,
dass meine Freiheit nicht durch etwas bedroht wird, das es mir erlaubt, den Terrorismus
wirksam zu bekämpfen.“
… kurzum wollen sie den Ausnahmezustand aufrechterhalten, um ihn zum Normalzustand zu machen.
Die „Welt danach”, die so manche – durchaus aufrichtig
– herbeisehnen, ist aus der politischen Sicht der herrschenden Klassen in
Wirklichkeit schon da. Auch wenn diese die gegenwärtigen und zukünftigen Krisen
nicht in ihrem genauen Verlauf vorhersehen können, ist ihre Marschrichtung
großteils schon vorgegeben: Angeblich seien sie sich dessen bewusst, dass es
Veränderungen braucht, aber bloß, um somit reaktionäre Maßnahmen besser
verkaufen zu können; sie nehmen die Kritik am System auf ihre Kappe, um daraus
Maßnahmen abzuleiten, die das System in keiner Weise gefährden oder es gar noch
konsolidieren; kurzum wollen sie den Ausnahmezustand aufrechterhalten, um ihn
zum Normalzustand zu machen. Zwar hat es so noch niemand formuliert, aber man
kann sich die Worte schon ausmalen: „Ich bin der Ansicht, dass meine sozialen
Rechte nicht durch etwas bedroht sind, das es mir erlaubt, die Wirtschaftskrise
wirksam zu bekämpfen.“
Das Programm bleibt gleich
Das Problem ist, dass sie natürlich versuchen werden, dies auf Kosten anderer Grundbedürfnisse der Bevölkerung umzusetzen …
Insofern ist es völlig illusorisch zu glauben, dass die
gegenwärtige Krise die herrschenden Klassen von der Notwendigkeit überzeugen
könnte, „ihr Programm zu ändern” oder auch nur substanzielle Änderungen
daran vorzunehmen, obwohl die Krise zweifelsfrei gezeigt hat, dass das
kapitalistische Systems strukturell unfähig ist, die Bedürfnisse der Mehrheit der
Bevölkerung zu befriedigen und stattdessen einzig von der Logik des Profits
getrieben wird. In diesem Zusammenhang mögen bestimmte Maßnahmen auf den ersten
Blick als ungewohnter staatlicher Interventionismus erscheinen, aber sie
brechen keineswegs mit den Prinzipien des Neoliberalismus. Als Wirtschafts- und
Finanzminister Bruno Le Maire im März von staatlichen
„Kapitalbeteiligungen” oder gar „Verstaatlichungen” sprach, ging es
in keiner Weise darum, Unternehmen, die unentbehrliche Güter und
Dienstleistungen produzieren (z. B. die Pharmaindustrie), unter
öffentliche Kontrolle zu stellen, sondern darum, die von der Börsenkrise
bedrohten „Juwelen” des französischen Kapitalismus zu retten und sie vor
ausländischer Konkurrenz zu schützen.
Dasselbe gilt für die versprochenen „Investitionsvorhaben”,
unter anderem im Gesundheitswesen. Dazu schreibt Gilbert Achcar zu Recht: „Wir
können mit Sicherheit vorhersagen, dass die Neoliberalen widerspruchslos die Ausgaben
für das öffentliche Gesundheitswesen erhöhen werden, aber nicht ohne
sicherzustellen, dass ihre Spezln in den Pharmakonzernen etc. davon profitieren
werden. Sie werden dies auch nicht tun, weil sie über Nacht zu Verfechtern des
Wohlfahrtsstaates geworden sind oder weil sie sich um die Bevölkerung sorgen,
sondern weil sie die wirtschaftlichen Folgen einer neuen Pandemie oder einer
zweiten Welle der aktuellen Pandemie fürchten. Das Problem ist, dass sie
natürlich versuchen werden, dies auf Kosten anderer Grundbedürfnisse der
Bevölkerung umzusetzen, etwa des Bildungswesens, der Renten oder der Arbeitslosenunterstützung,
und dabei gleichzeitig den Lohnabhängigen – durch Maßnahmen wie Lohnstopps oder
gar ‑kürzungen – die Kosten für die „Rückkehr zur Normalwirtschaft”
aufbürden.“[1]
… sie werden an die umsonstige Nächstenliebe appellieren, statt ausreichend Personal im öffentlichen Dienst und vor allem in den Krankenhäusern einzustellen.
Dass Macron und Konsorten durch ihr katastrophales
Krisenmanagement geglänzt haben, lag nicht nur an ihrer Inkompetenz, sondern
auch an ihrer Ideologie, ihrem Verständnis von Wirtschaft, sozialen Beziehungen
und Politik. In der beschränkten Sichtweise dieser glückseligen Jünger der
Marktwirtschaft darf es keine Entscheidungen geben, die die kapitalistische
Logik langfristig auch nur im Geringsten in Frage stellen könnten. Sie werden
lieber zig Milliarden Euro öffentlicher Gelder ausgeben, um die Großkonzerne
über Wasser zu halten, als sie unter öffentliche Kontrolle zu stellen; sie werden
sich weigern, den Preis für Schutzmasken ernsthaft zu deckeln – geschweige denn
sie kostenlos zu machen – indem sie argumentieren, dass „die Innovation nicht
behindert werden darf”; sie werden den Pflegern und Krankenschwestern Prämien
versprechen, statt ihre Gehälter zu erhöhen; sie werden an die umsonstige
Nächstenliebe appellieren, statt ausreichend Personal im öffentlichen Dienst
und vor allem in den Krankenhäusern einzustellen.
Sie sagen, was sie wollen …
Die Sachberichte und Empfehlungen der verschiedenen
wirtschaftsfreundlichen Lobbys wie z. B. die viel beachteten
„Anmerkungen” des Montaigne-Instituts zur Arbeitszeit[2]
zeigen eindeutig, dass die unbedingten Verfechter des Kapitalismus keineswegs
die Absicht haben, wirkliche Zugeständnisse zu machen oder von ihren
Grundprinzipien abzurücken. Insofern teilen wir die Analyse von Jean Castillo
in einer Veröffentlichung für Attac: „Über den Gesundheitssektor hinaus und auf
einer eher allgemeinen Ebene wird seit Beginn der Krise stets propagiert, dass
an der Marktwirtschaft wegen ihrer organisatorischen und ordnungspolitischen
Kapazitäten festgehalten und der Staat auf Distanz gehalten werden müsse. Diese
vorherrschende Position richtet sich nach wie vor frontal gegen Preiskontrollen
und Regulierung von Angebot und Nachfrage. Sowohl Denkfabriken als auch
einzelne Experten verweisen auf die Gefahr, dass der Staat wieder zu viel
Einfluss auf den Markt erlangen könnte, wohingegen sie immer noch das Heil in
der Deregulierung sehen.“[3]
Man unterlässt die Heuchelei. Man redet, was man denkt.
Dies bedeutet keineswegs, dass die Kapitalist*innen einfach
nur zuwarten würden und bloß im Sinn haben, alles wieder wie vor der Krise zu
handhaben, allein schon weil sie wissen, dass die Krise anhalten und die
sozialen Beziehungen insgesamt verändern wird. Und wir können getrost davon
ausgehen, dass sie alles daran setzen, dass diese Veränderungen nur zu ihren
Gunsten ausfallen, indem sie die Covid-Krise nutzen, feste Pflöcke
einzuschlagen, und uns vormachen, dass es jetzt an der Zeit sei, politisch zu
handeln. In einem am 28. Mai veröffentlichten Papier, das eine Liste von „Vorschlägen
für einen nachhaltigen Wiederaufschwung“[4]
enthält, macht das Medef keinen Hehl daraus: „Die Krise hat gezeigt, dass so
manches nicht richtig funktioniert oder gar zu schwerfällig ist. Diese
Erkenntnis müssen wir nutzen, um unsere Wirtschaft wiederaufzubauen und dabei
die Erfordernisse zu berücksichtigen, die sich in dieser Krise offenbart haben.“
Und hinter den hehren Parolen („ökologischer Wandel”, „digitaler Wandel”
usw.) steht ganz klar, was sie eigentlich wollen: „Alle Beteiligten (Regierung,
Unternehmen, Beschäftigte, Verbraucher, junge Generationen und Verbände) müssen
für dieses gemeinsame Ziel [den „Wiederaufbau“] mobilisiert werden. Wir müssen
Frankreich modernisieren und unsere Wirtschaft und unseren Arbeitsmarkt im
Rahmen der Europäischen Union wiederaufbauen und gleichzeitig die
Unternehmensfreiheit fördern.“
Die gleichen Töne schlägt die iFRAP-Stiftung, eine
Denkfabrik der Unternehmer*innen, die von der äußerst medienwirksamen Agnès
Verdier-Molinié[5] geleitet wird, in ihrem
Bericht[6] an:
„Diese Krise hat unsere Fehler der Vergangenheit ans Licht gebracht und stellt
uns vor die Frage, wie wir wieder auf die Beine kommen, Arbeitsplätze und
Wachstum schaffen können. Dies ist unsere Herausforderung für die Zukunft, denn
nach unseren Berechnungen anhand des Némésis-Modells wird das französische BIP
seinen Wert von 2019 erst 2024 wieder erreichen. Dies erreichen wir sicher
nicht nach althergebrachter Art mit höheren Ausgaben, vor allem bei den
Sozialausgaben, und höheren Steuern. In einer Zeit, in der einige einen
nachfrageorientierten Aufschwung herbeisehnen, hält es die iFRAP-Stiftung für
dringend erforderlich, das Produktionssystem durch Angebotssteigerungen und
Strukturreformen zu stützen, die auf Unternehmen und Wettbewerbsfähigkeit
ausgerichtet sind. Es besteht die dringende Notwendigkeit, die Widerstandsfähigkeit
unserer Wirtschaft zu stärken und unsere öffentlichen Finanzen wieder auf einen
nachhaltigen Pfad zu bringen.“ Man unterlässt die Heuchelei. Man redet, was man
denkt … [frei nach Molière].
… und nutzen die Zeit für ihre Offensive
Nichts Neues unter der Sonne, werden einige sagen.
Kapitalisten sind Kapitalisten, und Neoliberale sind Neoliberale. So ist die
aktuelle Offensive zur Arbeitszeitverlängerung (Wochenarbeitszeit, Abschaffung
von Feiertagen und der AZV etc.) nur ein weiterer Aufguss des unerbittlichen
Kampfes, der seit dem 19. Jahrhundert währt, und des Kampfes für den
Zehn-Stunden- und später für den Acht-Stunden-Tag. Aber wir sollten nicht unterschätzen,
dass die herrschenden Klassen sich das Hirn zermartern und versuchen, aus der
Covid-Krise Profit zu ziehen, um den Spielraum für weitere Gegenreformen
auszuloten. In gewisser Weise hat diese Krise ganzen Sektoren der Bourgeoisie
als Experimentierfeld gedient, um neue Modelle unter realen Bedingungen zu testen,
die sie nun durchgängig einsetzen wollen.
… verstärkt die Arbeit fern von Kolleg*innen tendenziell die Gefahren, die das moderne Management eingeführt hat.
Beispielhaft ist in dieser Hinsicht die Telearbeit
(Homeoffice). Von den Millionen von Beschäftigten, die während des Lockdowns
von zuhause aus arbeiteten (20 % der erwerbstätigen Bevölkerung laut den
verschiedenen Umfragen), merkten viele im Laufe der Wochen, dass die
„Freiheit”, zuhause zu arbeiten, relativ ist. Laut einer Gewerkschaftsumfrage
unter 34 000 Beschäftigten[7] stellten
beispielsweise mehr als 30 % der Befragten, die Telearbeit leisteten, eine
Zunahme ihrer Arbeitsbelastung fest (40 % unter den leitenden Angestellten),
wobei 78 % von ihnen angaben, dass sie kein Recht auf Unterbrechung der
Online-Verbindung hatten, um Ruhezeiten zu garantieren. 82 % gaben sogar
an, dass die Zeitfenster, in denen sie erreichbar sein sollten, nicht genau
festgelegt waren. Zudem war während der Schließung von Schulen und Kindergärten
keine Kinderbetreuung vorgesehen, wovon insbesondere Frauen betroffen waren,
etc.
Diese „Flexibilisierung” geht einher mit einer
Atomisierung der Beschäftigten, mit einer zunehmenden Individualisierung der
Aufgaben und der Beziehungen zu den Vorgesetzten und mit dem faktischen
Verschwinden jeglichen kollektiven Rahmens der Kommunikation und gar
Organisation, um damit umzugehen. Für die Arbeitssoziologin Danièle Linhart „verstärkt
die Arbeit fern von Kolleg*innen tendenziell die Gefahren, die das moderne
Management eingeführt hat, nämlich die Stimulierung einer narzisstischen
Dimension, die den eigentlichen Sinn der Arbeit reduziert, nämlich für andere
und mit anderen zu arbeiten und nicht um der Beste zu sein in einem imaginären
Wettbewerb mit sich selbst und den anderen. Weit weg von anderen zu arbeiten
birgt auch die Gefahr, die abstrakte Dimension der Arbeit weiter zu verschärfen,
die durch ein Management installiert wurde, das von Zahlen, Formalisierung und
Kontrolle besessen ist und Verfahren, Protokolle und Berichtwesen vervielfacht.
Weit weg von anderen zu arbeiten, führt auch potentiell dazu, über weniger
Intelligenz, Erfahrung und Erfindungsreichtum zu verfügen, um mit den Problemen
der Aufgabenstellung fertig zu werden, weil die zunehmend dringlichere Unterstützung
durch das Kollektiv entfällt.“[8]
Es ist daher kaum verwunderlich, dass der Unternehmerverband
Medef und die Denkfabriken des Kapitals offen damit liebäugeln, etliche
Beschäftigte weiterhin von zuhause aus arbeiten zu lassen, zumal die
Unternehmen dadurch einen gewissen Teil ihrer Kosten auf ihre Mitarbeiter abwälzen
konnten (Computer-Hardware, Software, Internet-Abonnements, ergonomische
Arbeitsmittel etc.)[9]. In dem bereits erwähnten
Medef-Bericht kann man demnach auch lesen, dass es erforderlich ist, „Lehren
aus der Zeit des Lockdowns zu ziehen, um über neue Arbeitsformen und
betriebliche Erfordernisse (insbesondere durch Telearbeit) nachzudenken”,
„alle Formen der Telearbeit zu erleichtern” oder sogar „die
Digitalisierung der öffentlichen Dienste in bestimmten Sektoren, in denen
Telearbeit möglich ist, zu beschleunigen”. Natürlich geht es dabei nicht
im Geringsten um Maßnahmen, diesen Sektor „sozial” zu gestalten und zu
regulieren.
Wir stehen vor massiven Angriffen …
Statt der Telearbeit hätte man auch viele andere Beispiele nehmen
können, wie das Bildungswesen, wo „die Krise wohl einen Feldversuch ermöglicht
hat, wo mit Fernunterricht Erfahrungen gesammelt werden konnten und
Lehrer*innen mit Worten wie ‚Sie sollen Erdbeeren pflücken‘ herabgewürdigt
wurden, um so das öffentliche Schulwesen auf ein Minimum zu reduzieren und die
Aufgaben der Wissensvermittlung so weit wie möglich zu externalisieren. Auf diese
Weise können Privatfirmen Ergänzungsunterricht oder freiwillige Kurse
verkaufen, wobei es dem Markt überlassen wird, die Bildungsziele je nach
sozialen Merkmalen der Familien komplett zu variieren.“[10]
Düstere Aussichten, die leider alle Bildungsebenen, vom Kindergarten bis zur
Universität, betreffen.
In diesem Zusammenhang könnte man auch die (Fern-)Überwachung
thematisieren, wobei die Covid-Krise dazu dient, die technische und symbolische
Kontrolle des öffentlichen Raums auszuweiten und als „normal“ zu verkaufen:
Ausgangsbescheinigungen unter Androhung von Geldstrafen, Aufteilung in
„erlaubte” und „verbotene” Zonen, verstärkte Polizei- und
Militärpräsenz etc. Die Wochen, die hinter uns liegen, erinnern unweigerlich an
das Werk von Michel Foucault, der in Überwachen
und Strafen (1975) untersuchte, wie Pestepidemien von den öffentlichen Behörden
gehandhabt wurden, und daraus folgende Schlussfolgerung zog: „Die verpestete
Stadt, die von Hierarchie und Überwachung, von Blick und Schrift ganz
durchdrungen ist, die Stadt, die im allgemeinen Funktionieren einer besonderen
Macht über alle individuellen Körper erstarrt – diese Stadt ist die Utopie der
vollkommen regierten Stadt/Gesellschaft. Die Pest (jedenfalls die zu
erwartende) ist die Probe auf die ideale Ausübung der Disziplinierungsmacht. Versetzten
sich die Juristen in den Naturzustand, um die Rechte und Gesetze in der reinen
Theorie funktionieren zu lassen, so träumten die Regierenden vom Pestzustand,
um die perfekten Disziplinen funktionieren zu lassen.”
Die Covid-Krise als günstige Gelegenheit
Für die herrschenden Klassen ist die Covid-Krise eine
Gelegenheit, auf eine Neuordnung der sozialen Beziehungen auf der Grundlage der
jüngsten Neuerungen zu drängen. Diese Neuordnung soll nach dem Willen der
Vordenker des Kapitals und dessen politischen Sachwalter alle Lebensbereiche
umfassen und zur Voraussetzung haben, dass die Grundprinzipien des Kapitalismus
hochgehalten werden und die Marktlogik in weitere Sphären eindringen kann.
Gegen diese tiefgreifende Umstrukturierung, die zu noch mehr Unterdrückung und
Ausbeutung von Mensch und Natur und damit zu immer mehr Krisen mit
katastrophalen sozialen und ökologischen Folgen führt, müssen wir uns wehren.
Mit anderen Worten, wir müssen die herrschenden Klassen ernst nehmen und dürfen
nicht der Illusion erliegen, dass ihr chaotischer und gar katastrophaler Umgang
mit der Krise an fehlenden Perspektiven oder Strategien liegt. Vielmehr kommt
darin ein typisch kapitalistisches, aber einem ständigen Wandel unterworfenes
Weltbild zum Ausdruck und die durch die Pandemie geschaffene Ausnahmesituation
ist eine Gelegenheit, radikale Gegenreformen in Angriff zu nehmen und
gleichzeitig zu versuchen, die destabilisierende Hegemoniekrise der Bourgeoisie
zu überwinden oder gar zu lösen, auch wenn dies mit der weiteren Zunahme autoritärer
Züge der politischen Machtstrukturen einhergeht.
… gegen die wir uns umgehend wehren müssen
Für die soziale und politische Linke war die Zeit des
Lockdowns nach anfänglicher Verunsicherung Anlass, in vielerlei Hinsicht
darüber nachzudenken, wie die „Welt von morgen“ aussehen soll. In diesem
Zusammenhang möchten wir auf den „Plan für einen Ausweg aus der Krise” vom
26. Mai[11] verweisen, der von 20
Organisationen, Initiativen und Gewerkschaften ausgearbeitet worden ist und 34
soziale, ökologische und demokratische Maßnahmen vorschlägt und für einen
„Systemwechsel“ plädiert. Hier ist nicht der Ort für eine detaillierte Analyse
der Vorschläge dieses Kollektivs, die von einem „Notfallplan für das
öffentliche Krankenhauswesen” über „die Einstellung öffentlicher
Subventionen für umweltschädliche Industrien”, „die Stärkung der
Arbeiter*innenrechte”, „die Verkürzung und Aufteilung der
Arbeitszeit” bis hin zu „einem garantierten Recht auf Einkommen und
sozialen Schutz für alle” reichen. All dies sind Vorschläge, die von einem
in dieser Breite beispiellosen kollektiven Bündnis getragen werden, die jetzt
öffentlich diskutiert werden und deren Hauptverdienst darin besteht, dem
Prinzip: „Es gibt keine Alternative” entgegenzuwirken, den uns der
herrschende Diskurs aufzwingen will.
Zwei gegensätzliche Herangehensweisen in der Linken
Was uns in diesem Zusammenhang mehr interessiert, sind die
konkreten Bedingungen, unter denen der Widerstand von unten gegen die
gegenwärtige Offensive aufgebaut werden kann. Dabei geht es um spezifische
Forderungen der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche, aber auch um ein
umfassenderes Notfallprogramm, in dem Forderungen zusammengefasst und
formuliert werden, die den Plänen und Interessen der Kapitalisten diametral
entgegenstehen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es innerhalb der
politischen Linken zwei gegensätzliche Herangehensweisen gibt, deren eine aus
dem Aufruf „Erneuerte pluralistische Linke” vom 14. Mai hervorgeht.[12]
Dieser Text will originell und punktuell radikal erscheinen, schlägt dabei aber
nichts anderes vor als den Aufbau einer „politischen Alternative” um die
PS, die Umweltpartei Place publique, die Grünen aus der EELV und die
„gemäßigten“ Tendenzen innerhalb der PCF. Eine ausschließlich auf die
Institutionen orientierte Herangehensweise nach althergebrachter Art, die kein
Wort darüber verliert, wie die Kräfteverhältnisse geändert und Mobilisierungen
angestoßen werden können, als könne man bis zu den Wahlen 2022 warten, um sich
gegen die laufende Großoffensive zu wehren.
Der Kapitalismus, ist sicherlich erheblich diskreditiert (…). Insofern gibt es keinen Grund für die Antikapitalist*innen und Revolutionär*innen, zu verzagen.
Kurzum kommt darin das genaue Gegenteil von dem, was die
Situation erfordert, zum Ausdruck, abgesehen von der besonders minimalistischen
Programmatik des Aufrufs. Wie erwähnt begnügen sich die herrschenden Klassen
nicht damit, eine „Welt nach Corona“, also einen Neuanfang zu versprechen oder
gar abzuwarten, sondern sie arbeiten bereits daran, und die kleinlichen Kalküls
und großartigen Manöver derjenigen, die auf die nächsten Wahlen warten wollen,
werden sie nicht in die Knie zwingen. Im Gegenteil, wenn man die Bevölkerung
glauben machen will, dass die kleinen Leute alles (wieder) zu ihren Gunsten
drehen können, ohne dass Massenmobilisierungen die bereits laufenden Angriffe
so schnell wie möglich stoppen, heißt dies nur, sich auf die nächsten
Nackenschläge einzustellen oder gar Schlimmeres.
Der Kapitalismus, insbesondere in seiner neoliberalen
Version, ist sicherlich erheblich diskreditiert, und im Falle Frankreichs
sollten die politischen und ideologischen Errungenschaften der
Gelbwesten-Bewegung und der Mobilisierung gegen die Rentenreform nicht unterschätzt
werden. Insofern gibt es keinen Grund für die Antikapitalist*innen und
Revolutionär*innen, zu verzagen, und wir müssen uns voll und ganz dem „Kampf
der Ideen” widmen: Es geht darum, die Perspektive einer anderen Welt,
einer anderen Produktionsweise, einer ökosozialistischen Gesellschaft nach
vorne zu bringen, und uns dabei zunutze zu machen, dass sich in der Covid-Krise
gezeigt hat, wie uns das kapitalistische System in eine tödliche Sackgasse
geführt hat, was unserem Programm/Projekt ein ganz besonderes Echo verleihen
kann.
Einerseits müssen wir unbedingt ein Notfallprogramm
propagieren, mit Forderungen, die mit den Interessen der Kapitalist*innen
unvereinbar sind, und die Idee verbreiten, dass „eine andere Welt möglich“ ist.
Aber dies macht nur dann Sinn, wenn wir dabei den Widerstand gegen die kapitalistische
Politik und deren Pläne zum jetzigen Zeitpunkt organisieren, sonst bleiben die
Diskussionen über das, „was möglich ist” bloß tote Buchstaben. „Von nun an
ist die Gegenwart kein einfaches Glied mehr in der Kette der Zeiten, sondern
ein Augenblick der Auswahl des Möglichen; die Beschleunigung der Geschichte ist
nicht die einer von Schnelligkeit berauschten Zeit, sondern die Auswirkung der
verteufelten Rotationen des Kapitals; das revolutionäre Handeln ist nicht der
Imperativ einer kontrollierten Fähigkeit, Geschichte zu machen, sondern das
Engagement in einem Konflikt mit ungewissem Ausgang.“[13]
Die Kämpfe waren durch den Lockdown nicht völlig
verschwunden und nehmen im Zuge der Lockerungen wieder zu, unter anderem und
vor allem im Gesundheitswesen, aber auch in den Unternehmen, angesichts der
Entlassungswellen und des Stellenabbaus, oder auch als Protest gegen Rassismus
und Polizeigewalt. Sie sind ein wichtiger Hebel, um gegen die „Schocktherapien”
der herrschenden Klassen auf Augenhöhe vorzugehen. Nur ein entschlossenes,
kollektives Handeln, hier und jetzt, gegen das, was bereits vorhanden ist, kann
aufzeigen, was morgen „möglich“ ist, und „etwas anderes” ins Auge fassen
als den Alptraum, den uns die Kapitalisten versprechen.
Aus: l’Anticapitaliste la Revue vom Juni 2020
Übersetzung: MiWe
[1] Gilbert Achcar, Auto-extinction du néolibéralisme ? N’y comptez point, online unter https://npa2009.org/actualite/economie/auto-extinction-du-neoliberalisme-ny-comptez-point
[2] Rebondir face au Covid-19 : l’enjeu du temps de travail , Mai 2020, online unter: http://www.medef.com/uploads/media/default/0018/77/12890-conference-de-presse-du-28-mai-2020-presentation-du-plan-de-relance-du-medef.pdf
[3] Jean Castillo, Comment les néolibéraux veulent profiter de la crise sanitaire, 7. Mai 2020, online unter: https://france.attac.org/se-mobiliser/que-faire-face-au-coronavirus/article/comment-les-neoliberaux-veulent-profiter-de-la-crise-sanitaire
[4] Pour une “”prise de
confiance ”, propositions du Medef pour une relance durable, 28. Mai 2020, unter: https ://www.medef.com/uploads/media/default/0018…
[5] Vgl. Pauline Perrenot (mit Kilian Sturm), Agnès Verdier-Molinié, ou la „pédagogie” à coups de marteau : „Sus à l’hôpital public” !, Acrimed, 15. April 2020, unter http://www.acrimed.org/Agnes-Verdier-Molinie-ou-la-pedagogie-a-coups-de
[6] Le plan de la Fondation iFRAP pour l’emploi et la croissance et surmonter la crise, 7. Mai 2020, unter http://www.ifrap.org/etat-et-collectivites/le-plan-de-la-fondation-ifrap-pour-lemploi-et-la-croissance-et-surmonter-la
[7] Le travail sous épidémie, 5. Mai 2020, unter https://luttevirale.fr/enquete/rapport/
[8] Beitrag von Danièle Linhart auf der Website von éditions Érès : https://www.editions-eres.com/edito/89
[9] Vgl. hierzu die unter 7
erwähnte Untersuchung.
[10] Stéphane Bonnery, Covid-19 et accélération de la crise de l’école. Leur projet et le nôtre, Contretemps-web, 31. Mai 2020, unter http://www.contretemps.eu/covid19-crise-ecole-blanquer/
[11] Vgl. hierzu u. a. auf der Website von Attac: Plus jamais ça ! 34 mesures pour un plan de sortie de crise, 26. Mai 2020 : https://france.attac.org/nos-publications/notes-et-rapports/article/plus-jamais-ca-34-mesures-pour-un-plan-de-sortie-de-crise
[12] Au cœur de la crise, construisons l’avenir, l’Obs, 14. Mai 2020, unter https://www.nouvelobs.com/politique/20200514.OBS…
[13] Daniel Bensaïd, Der unzeitgemäße Marx, S. 74 – hier bestellbar https://www.neuerispverlag.de/verweis.php?nr=176