Antonio Orejudos gleichnamiger Roman von 2000 galt lange als unverfilmbar. Und in der Tat: Die Erzählstruktur ist eine Herausforderung an sich. Insgesamt zwölf Handlungsstränge werden auf 114 Seiten, resp. in 103 Minuten Laufzeit mehr oder weniger ineinander verwoben erzählt. Im ersten Akt finden sechs abgeschlossene, ineinander verschachtelte Erzählungen gleichzeitig statt. Eine dramaturgische Meisterleistung.
Die Verlegerin Helga Pato (brillant: Pilar Castro) hat ihren vom eigenen Kot besessenen Mann in einer Nervenklinik abgegeben und kommt auf dem Heimweg im Zug mit dem Psychiater Ángel Sanagustín (Ernesto Alterio) ins Gespräch, der ein befremdliches Interesse an Erzählungen von Schizophrenen hat, insbesondere von Koprophilen. Mit fortlaufender Erzählung zieht er Helga (und die Zuschauer*innen) tiefer und tiefer in die Abgründe der menschlichen Leiden und Leidenschaft. Helgas Reaktion auf die Berichte des Nervenarztes wandelt sich von Ekel zu Faszination. Und kaum hat ihr Reisepartner das Abteil verlassen, bemerkt sie, dass sie sich in seinen Erzählungen wiederfindet und stellt sich ihren eigenen Neurosen und Traumata.
Das Wort, das den Film (und auch den Roman) beherrscht, ist “Angenommen…”. Ein wichtiges Thema der “obskuren Geschichten” ist die Macht der Phantasie und des unzuverlässigen Erzählens. Im ersten Akt wird eindrucksvoll präsentiert, was damit gemeint ist. Jede Aussage verändert das Bild, das im Kopf, bzw. auf der Leinwand entsteht, wenn man einer Erzählung folgt. Mit jedem Halbsatz gewinnt das Bild an Detail. Jedes Wort kann mitunter die ganze Geschichte verändern.
Dieser vergebliche Versuch, ein ganzes, wahrhaftiges Bild zu zeichnen, oder eine Geschichte ganz zu verstehen, wird in einer wunderbar verspielten Art, die an die Filme von Jean-Pierre Jeunet erinnert, bebildert. Unter Anderem mit schwindelerregenden, vertikalen 180°-Schwenks, der Verwendung von Ultraweitwinkelobjektiven, einer fast hysterisch übersättigten Farbgestaltung und wilden Actionschnitten.
Doch das unzuverlässige Erzählen bleibt nicht nur verspielt, sondern fordert an anderer Stelle traurigen Tribut. Der paranoide Martín (Luis Tosar), ein ehemaliger Patient Sanagustíns, glaubt, dass die Regierung Haushaltsmüll scannt, Menschen mit Mikrochips und Wanzen spickt und mit Müllautos Jagd auf Truther macht. Außerdem, dass die Welt-Elite einen Kinderporno- und Snuff-Ring unterstützt, darunter Mitglieder der UNO, der NATO und des heiligen Stuhls. Verschwörungstheorien wie die vom rechtsradikalen Blogger QAnon.
Der Film macht an dieser Stelle auch bewusst, wie gerne man Erzählungen Glauben schenkt, ohne sie zu hinterfragen. Wie schnell man einem Verschwörungsmythos erliegen kann, ohne wichtige Detailfragen geklärt zu wissen. “Glaubwürdigkeit wird überbewertet”, erklärt sich Martín gegen Ende des Films.
Ein weiteres Thema, an dem sich sowohl Roman als auch Film versuchen, ist eine Abrechnung mit dem Postmodernismus. “Wenn das, was wir von Ereignissen wissen,diskursivvermittelt ist, dann gibt es immer mehr als eine Version dieser Ereignisse“, schrieb Thomas Diez in seinem Text „Postmoderne Ansätze“1 und Doktor Sanagustín analysiert diese Verhaltensform, die eigene und die umgebende Welt in sich überlappenden, unterschiedlichen Versionen der Realität wahrzunehmen (im eigenen Kot zu stochern) als ein Symptom von Schizophrenie.
Der Baske Aritz Moreno ist eigentlich Kurzfilmautor und ‑regisseur. Mit “Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden” hat er einen unmöglichen Stoff zur richtigen Zeit umgesetzt. Man darf hoffen, dass er dranbleibt.