Dossier
“Einmal eingeführte Überwachungsinstrumente werden später ausgeweitet. Ein Paradebeispiel dafür ist die einheitliche Steuer-Identifikationsnummer, die jetzt als Personenkennziffer zum Datenabgleich der Bürger:innen genutzt werden soll. Alternative und datenschutzfreundlichere Modelle hat die Bundesregierung bislang verworfen, obwohl ihr Vorschlag verfassungswidrig sein dürfte. (…) Problematisch ist die Einführung einer Personenkennzahl unter anderem wegen des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichtes und dem möglichen Verstoß gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Das Urteil untersagt dem Staat die Verknüpfung von personenbezogenen Daten mit einer übergreifenden Identifikationsnummer wegen einer möglichen Profilbildung. Schon frühere Entscheidungen des Gerichtes, etwa das Mikrozensus-Urteil von 1969, wendeten sich gegen die Personenkennziffer. Dort hieß es, dass es der menschlichen Würde widerspreche, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen. “Mit der Menschenwürde wäre es nicht zu vereinbaren, wenn der Staat das Recht für sich in Anspruch nehmen könnte, den Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren, sei es auch in der Anonymität einer statistischen Erhebung, und ihn damit wie eine Sache zu behandeln, die einer Bestandsaufnahme in jeder Beziehung zugänglich ist.” Nach der Einführung der Steuer-ID warnte 2011 der damalige Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar, dass die Nutzung der Steuer-ID entgegen aller Beteuerungen „schleichend ausgeweitet“ würde. Die Steuer-ID werde durch die Hintertür zu einer allgemeinen Personenkennziffer, was die Gefahr der Bildung aussagekräftiger Persönlichkeitsprofile verstärke…” Beitrag von Markus Reuter vom 9. Juli 2020 bei Netzpolitik.org und ein weiterer zu ersten Protesten sowie den Hintergrund:
- Innenministerium will trotz besserer Alternative zentrale Personenkennziffer einführen /Personenkennziffer: Das Grundgesetz darf keine Kostenfrage sein
- Innenministerium will trotz besserer Alternative zentrale Personenkennziffer einführen
“Horst Seehofer will die Steuer-ID als universelle Personenkennziffer einführen. Weil das Vorhaben technisch die Zusammenführung aller Daten der Bürger:innen ermöglicht, könnte es verfassungswidrig sein. Wir veröffentlichen und analysieren den Referentenentwurf des Registermodernisierungsgesetzes. Für die Registermodernisierung in Deutschland liegt nun der Referentenentwurf des Bundesinnenministeriumsvor, den wir dieser Stelle im Volltext veröffentlichen. Zentraler Punkt des Gesetzes ist die Etablierung der Steuer-Identifikationsnummer als behördenübergreifend genutztes Personenkennzeichen. Die Einführung einer solchen Personenkennziffer ist verfassungsrechtlich höchst umstritten: dem Anliegen steht unter anderem das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichtes
wegen eines möglichen Verstoßes gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung
entgegen. Das Urteil untersagt dem Staat die Verknüpfung von personenbezogenen Daten mit einer übergreifenden Identifikationsnummer, weil dadurch eine Profilbildung ermöglicht wird. Die Steuer-ID ist die erste und einzige Nummer, die bei allen in Deutschland geborenen Bewohner:innen ihr Leben lang gleich bleibt, man bekommt sie bei Geburt und behält sie bis über den Tod hinaus. Als die Steuer-ID im Jahr 2007 eingeführt wurde, gab es wegen einer möglichen Nutzung als Personenkennziffer Kritik von Datenschützer:innen. Sie wurde damals als Panikmache weggewischt. Nun allerdings passiert genau das, vor dem damals gewarnt wurde. Der vorliegende Gesetzentwurf sieht eine Zusammenführung der Register-Daten zwar nicht vor, ermöglicht diese aber technisch. Register sind Datenbanken, die in Kommunen, Ländern und im Bund vorliegen. Das Gesetz betrifft etwa 50 unterschiedliche Register vom Anwaltsverzeichnis über Daten der Agentur für Arbeit bis hin zum Versichertenverzeichnis der Krankenkassen. (…) Um nicht direkt verfassungswidrig zu sein, versucht der Gesetzentwurf in §3 die Konstruktion der „Registermodernisierungsbehörde“, die beim Bundesverwaltungsamt angesiedelt sein soll. Diese Behörde würde als eine Art Datenmittlerin zwischen dem Bundeszentralamt für Steuern, wo die Steuer-ID geführt wird, und den anderen registerführenden Behörden dienen. Sie übermittelt die Steuer-ID und dann auch die zugehörigen „Basisdaten“, führt aber kein eigenes Register mit IDs und damit verknüpften Basisdaten, weil das die Einführung eines zentralen Melderegisters und damit rechtlich nicht zulässig wäre. (…) Weil nicht alle dauerhaft in Deutschland lebenden Personen steuerpflichtig sind, führt das Gesetz nun ein, dass alle dauerhaft in Deutschland wohnenden Personen eine Steuer-ID bekommen. Hier könnte der Steuerbehörde eine Aufgabe zugeteilt werden, die eigentlich nicht in ihrem Aufgabenbereich liegt. Immerhin sieht das Gesetz vor, dass die Daten nach „aktuellen Stand von Sicherheit und Technik“ verschlüsselt übertragen werden müssen. Kommunen müssen diesen Standard aber erst in zehn Jahren erfüllen. (…) Der vorliegende Gesetzentwurf sieht ein deutlich invasiveres Modell vor, als es für die Registermodernisierung und die Digitalisierung der Verwaltung nötig gewesen wäre. Alternativ hätte sich das österreichische Modell angeboten. In diesem Modell liegt die eigentliche, aber geheime Personenkennziffer nur einer unabhängigen Datenschutzbehörde vor. Die anderen Behörden nutzen spezielle Personenkennziffern für ihren Fachbereich, was die Verbreitung der eigentlichen Kennziffer eindämmt und verhindert, dass Daten einfach zusammengeführt werden können. Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte (BfDI) hat auf die Vorteile solcher „bereichsspezifischer Identitätskennzeichen“ hingewiesen…” Artikel von Markus Reuter vom 25.08.2020 bei Netzpolitik
, siehe dazu den Kommentar:
- Personenkennziffer: Das Grundgesetz darf keine Kostenfrage sein
“Die Bundesregierung will entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes eine universelle Personenkennziffer einführen. Eine erprobte datenschutzfreundliche Alternative lehnt sie ab, weil sie zu teuer sei. So geht das nicht! 13 Jahre. So lang ist offenbar die Halbwertszeit datenschutzpolitischer Versprechen der Regierung Merkel. 2007 wurde die Steuer-Identifikationsnummer gegen den Widerstand derjenigen eingeführt, die vor dem „gläsernen Bürger“ warnten. Das Versprechen der Bundesregierung damals: Die Steuer-ID wird keine universelle Personenkennziffer werden. Genau das plant nun aber Horst Seehofers Innenministerium. (…) „Function Creep“ nennen das Überwachungsforscher:innen. Einmal eingeführte technische Mittel haben die Eigenschaft, ihre Funktionen schleichend zu erweitern. Weil sich in der Praxis immer neue Anwendungsmöglichkeiten finden. Und weil der Widerstand kleiner ist, wenn sich die Bevölkerung erstmal an den ersten Schritt gewöhnt hat. Das Bundesverfassungsgericht hatte in mehreren Urteilen entschieden, dass eine universelle Personenkennziffer nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Zu groß sei die Gefahr, die von der damit verbundenen Möglichkeit der individuellen Verhaltensaufzeichnung und Profilbildung einhergehe. Dieses Rechtsverständnis entstand auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, schließlich ermordeten die Nationalsozialisten Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten in Registern und Verzeichnissen erfassten Gruppen…” Kommentar von Ingo Dachwitz vom 25.08.2020 bei Netzpolitik
- Innenministerium will trotz besserer Alternative zentrale Personenkennziffer einführen
- Steuer-ID soll Bürgernummer werden – Datenschützer sind alarmiert
“… Rund 130 Milliarden Euro verteilt die Bundesregierung mit ihrem Corona-Konjunkturpaket. Allerdings hat die Große Koalition in dem Paket auch eine Entscheidung versteckt, die mit Corona und der Konjunktur wenig zu tun hat: Die Steuer-ID werde in eine „verwaltungsübergreifende ID-Nummer“ verwandelt, heißt es im „Eckpunkte-Papier“. Noch im Sommer soll das Innenministerium einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. (…) Das Vorhaben führt nun zu Ärger. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Ulrich Kelber, lehnt es „aus verfassungsrechtlichen und aus datenschutzrechtlichen Gründen“ ab. Es bestehe die Gefahr einer „vollständigen Registrierung und Katalogisierung der Persönlichkeit“, sagte Kelbers Sprecher Ende Juni gegenüber c’t. (…) Datenschützer Kelber hat allerdings nicht grundsätzlich etwas gegen E‑Government und Datenaustausch zwischen Ämtern. Aus seiner Sicht gibt es nämlich datenschutzfreundlichere Alternativen zur übergreifenden Kennzahl, „etwa bereichsspezifische Identitätskennzeichen“. (…) Gemeint ist ein Modell, das in Österreich bereits angewendet wird. Die Alpenrepublik hat für E‑Government eine „Stammzahl“ eingeführt, aus der eine Zentralstelle mit kryptografischen Verfahren bereichsspezifische Nummern für unterschiedliche Behörden ermittelt. Aus diesen Nummern kann die Stammzahl nicht zurück errechnet werden. Benötigt ein Amt fremde Daten, erhält es von der Zentralstelle die verschlüsselte Spezialnummer des Bürgers bei der Zielbehörde und kann damit die gewünschten Daten anfordern. Aus Sicht von Kelber ist das sicherer, als einfach überall die Steuer-ID zu speichern. Im Fall eines Missbrauchs könnten Daten „nicht so leicht zusammengeführt werden wie bei der Verwendung eines registerübergreifenden Identitätskennzeichens“, sagte sein Sprecher. Und laut einer Gruppe von E‑Government-Experten aus der deutschen Verwaltung wäre das österreichische Modell auch für Deutschland praktikabel. Die Details der Umsetzung hat die Gruppe in einem 20-seitigen Papier, das c’t vorliegt, für die Politik skizziert. Die GroKo hat sich trotzdem für die Steuer-ID entschieden. Für Datenschutz beim Austausch soll nun lediglich eine nicht näher benannte „dritte Stelle“ sorgen, die prüft, „ob Sender und Empfänger die Daten rechtmäßig übermitteln dürfen“, wie das Innenministerium mitteilte. Aus Sicht von Kelber reicht das jedoch nicht aus. Experten aus Wissenschaft und Verwaltung rechnen deshalb damit, dass der Streit vom Bundesverfassungsgericht entschieden werden muss.” Beitrag von Christian Wölbert vom 9. Juli 2020 aus c’t 15/2020 - Siehe zum Hintergrund unseren Beitrag vom 25. Juni 2019: Digitale Behörden: Innenminister wollen vernetzte Melderegister mit einer Art Personenkennziffer
Der Beitrag Registermodernisierung und Steuer-ID: Eine Nummer, sie alle zu finden erschien zuerst auf LabourNet Germany.