„Bittet mich nicht um Ruhe, denn ich bin eurer Bitten überdrüssig. Wie lange werdet ihr noch sagen, dass ich genauso bin wie diejenigen, die mich töten wollen?“
„Wie lange wird man mich noch für den Rassismus verantwortlich machen, dessen Opfer ich doch bin? Wie lange wird man noch behaupten, ich sei genauso wie die, die mich vergewaltigen und töten wollen? Wie lange noch? (…) Der einzige Anstand, den ich von denen erwarte, die den Rassismus hartnäckig totschweigen oder kleinreden, ist, dass sie wenigstens die Intelligenz und den Mut haben, den Rassismus zu vernichten, bevor er uns vernichtet.“
„If
we must die, O let us nobly die,
So that our precious blood may not be shed
In vain; then even the monsters we defy
Shall be constrained to honor us though dead!“
„Wenn wir denn sterben, wolln wir würdig gehn,
Es fließe nicht umsonst köstliches Blut.
Das Ungeheuer, dem wir widerstehn,
Soll ehren noch der Toten letzten Mut.“
Claude
McKay[1]
In den letzten paar Jahren gab es Tausende von Beschwerden
wegen rassistischer Diskriminierung bei der zuständigen Stelle, der „Comissão
para a Igualdade e Contra a Discriminação Racial“ (Kommission für
Gleichstellung und gegen Rassendiskriminierung), ganz zu schweigen von den
Hunderten rassistischer Vorfälle, die zu Anklage vor Gericht geführt haben.
Einige Dutzend dieser Fälle haben sogar die Öffentlichkeit im Land aufgewühlt
und von einigen davon soll hier die Rede sein.
Im Februar 2015 folterten mehrere Dutzend Polizeibeamte
sechs schwarze Bürger auf dem Polizeirevier von Alfragide und beleidigten ihre
Opfer dabei noch mit rassistischen Sprüchen.
Im Februar 2107 wurde die Roma-Gemeinde von Santo Aleixo da
Restauração im Kreis Moura Ziel von Morddrohungen, die neben Hakenkreuzen auf
die Wände des Dorfes gepinselt wurden, sowie von Brandanschlägen auf Häuser,
Tiere, Autos und sogar das Kirchengebäude, in dem die Familien ihre religiösen
Feiern abhielten. Ganz im Stil der Nazi-Pogrome.
Ebenfalls im Februar 2017 entfachte sich ein Streit über
getrennten Schulunterricht anhand einer Schule in Famalicão in Nordportugal,
deren Schüler sämtlich der Bevölkerungsgruppe der Roma angehören.
Im Juli 2017 weigerte sich der Vorsitzende des
Pfarrgemeinderats von Cabeça Gorda im Bezirk von Beja, die Beerdigung eines
Mitglieds der Roma-Gemeinde und die Abhaltung einer Totenwache in der örtlichen
Leichenhalle zu genehmigen.
Im Januar 2018 machte eine Gruppe von Eltern von Kindern der
vierten Klasse der Major David Neto-Grundschule in Portimão öffentlich, dass
die Schüler*innen dort Misshandlungen, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und
Diskriminierung ausgesetzt seien.
In der Johannisnacht 2018 wurde Nicol Quinayas vom
Sicherheitsdienst des ÖPNV in Porto angegriffen. Das Opfer und seine
Begleitpersonen berichteten, dass es dabei zu rassistischen Beleidigungen
gekommen sei. Zur gleichen Zeit brach in der portugiesischen Öffentlichkeit
eine breite Diskussion zu diesem Thema aus.
Im Januar 2019 wurde die Familie Coxi aus dem Bezirk
Chícharos Valley, allgemein bekannt unter dem Namen Jamaika, von Polizeibeamten
brutal angegriffen.
Im Dezember 2019 wurde der kapverdische Student, Luis
Giovani Rodrigues, in Bragança zu Tode geprügelt. Die Einzelheiten über die
Misshandlungen und sein Tod wurden fast eine Woche lang verschwiegen.
Im Januar 2020 wurde Claudia Simões von dem Polizeibeamten
Carlos Canha an einer Bushaltestelle in Amadora und später in dem Polizeiauto,
das sie zur Polizeiwache fuhr, tätlich angegriffen, weil ihre achtjährige
Tochter ihren Ausweis nicht bei sich hatte.
Im Februar 2020 wurde Moussa Marega zum Ziel anhaltender
rassistischer Gesänge von Anhängern des Erstligisten Guimarães. Da er diesen
Beleidigungen gegenüber allein gelassen wurde, verließ er das Spielfeld – eine
äußerst mutige Geste.
Im Juni 2020 ermordete Evaristo Martinho den schwarzen
Schauspieler Bruno Candé Marques am helllichten Tag auf einer Straße in
Moscavide, nachdem er zuvor drei Tage lang rassistische Beleidigungen und
explizite Morddrohungen ausgesprochen hatte.
Die Laxheit, mit der die Parlamentsfraktionen mit André Venturas rassistischer Agenda umgegangen sind, sei es durch Unterlassung, aus Einverständnis oder politischer Taktik, hat die Bedingungen dafür geschaffen, dass sich Rassismus in aller Öffentlichkeit breit machen konnte.
Die Wahl von drei schwarzen Abgeordneten aus der
antirassistischen Bewegung und zugleich eines offen rassistischen Abgeordneten
hat den grassierenden Rassismus noch stärker in den allgemeinen Blickpunkt
gerückt.[2]
Die Diskussion hierüber wurde zunehmend expliziter und heftiger bis hin zu
einer offenen Hasswelle, die durch soziale Medien, Rundfunkmedien und Politik
geschürt wurde. Mit zunehmender Eskalation fand der alltägliche Rassismus seine
Stimme in besagtem rassistischen Abgeordneten, der zum Sprachrohr von
Stimmungen wurde, die zuvor verhehlt waren.
Der zunehmende rechtsextreme Terror in der Öffentlichkeit
seit Juni mit einer Vielzahl rassistischer „Graffiti” an verschiedenen
Gebäuden und Wandmalereien im Großraum Lissabon, mit unverhohlener Androhung
von Gewalt und Mord steht im Gleichklang mit dieser Eskalation. Der Höhepunkt
waren der Angriff auf den Sitz von SOS-Rassismus, der Aufmarsch im Stile des Ku-Klux-Klans
und die Morddrohungen gegen Aktivist*innen und gewählte Funktionsträger*innen.[3]
Als offener Aufruf zu Hass und Gewalt überschreiten diese jüngsten Drohungen
eindeutig alle roten Linien in der politischen Auseinandersetzung. Und sie sind
die logische Folge der zunehmenden rassistischen Hetze, die der rechtsextreme
Abgeordnete André Ventura betreibt und die die terroristischen Aktionen
neonazistischer Gruppen legitimiert. Die Laxheit, mit der die
Parlamentsfraktionen mit André Venturas rassistischer Agenda umgegangen sind,
sei es durch Unterlassung, aus Einverständnis oder politischer Taktik, hat die
Bedingungen dafür geschaffen, dass sich Rassismus in aller Öffentlichkeit breit
machen konnte. André Ventura, der den rassistischen Diskurs der Straße ins
Parlament getragen hat, und all jene, die es durch Unterlassung, Zustimmung
oder Stillschweigen vorgezogen haben, den Rassismus nicht zu bekämpfen oder ihn
gar zu nähren, sind schuld an den terroristischen Exzessen der extremen Rechten.
Die finanziellen Handlanger aus der wirtschaftlichen Elite des Landes, die eine
Agenda finanzieren, die die Demokratie erstickt, werden auch für die Misere
verantwortlich sein, die der Aufstieg von Faschismus und Rassismus mit sich
bringt.
Tatsächlich wird es nicht gelingen, den Rassismus unter den
Teppich zu kehren. Die Zunahme rassistischer Gewalt hat dazu beigetragen, den
strukturellen Charakter des Rassismus in der portugiesischen Gesellschaft zu
offenbaren. Den Rassismus und seine mitunter tragischen Folgen, wie beim
jüngsten Mord an dem Schauspieler Bruno Candé Marques, zu leugnen und
totzuschweigen, ist nicht länger hinnehmbar. Den Rassismus hartnäckig zu
leugnen oder seine Tragweite und seine Folgen für das Leben Tausender unserer
Mitbürger*innen zu relativieren, bedeutet, keine Verantwortung für die
Verteidigung der Demokratie zu übernehmen und uns kollektiv zu Komplizen der
Bedrohung zu machen, die über ihr schwebt. Es kann kein Gemeinschaftsleben und
keine lebensfähige demokratische Gesellschaft geben, solange einige ihrer
Mitglieder systematisch verfolgt und als Mitbürger*innen aus der Gesellschaft
ausgeschlossen werden.
Gelassenheit und Zurückhaltung und/oder Schweigen angesichts rassistischer Gewalt ist eine Form der Komplizenschaft, der kein Demokrat hinnehmen kann.
Leider gibt es entgegen aller Evidenz immer noch welche, die
weiterhin moralische Kleingeistigkeit und bestürzende politische Unredlichkeit
an den Tag legen, indem sie systematisch und vehement darauf beharren,
Antirassismus mit Rassismus gleichzusetzen. Sind einige dieser Menschen, die
von den Opfern des Rassismus Ruhe, Zurückhaltung und gesunden Menschenverstand
fordern, verbal oder körperlich angegriffen worden, weil sie als Schwarze oder
Roma in der Gesellschaft leben? Wurden sie jemals daran gehindert, einen
öffentlichen Raum zu betreten, ein Haus zu mieten oder einen Arbeitsplatz zu bekommen,
oder wurden sie für die gleiche Arbeit wie ihre Kolleg*innen um ein Drittel
weniger bezahlt? Wurden sie verfolgt und ihr Privatleben bis zum Umfallen
ruiniert? Sind sie dauerhaft und systematisch durch Mails oder physisch
verfolgt worden? Wurden sie jemals mitten auf der Straße von der extremen
Rechten in einen Hinterhalt gelockt? Wurden sie gezwungen, umzuziehen, weil sie
um ihre Sicherheit und die ihrer Familie fürchten mussten? Mussten sie ihre
Telefonnummer oder ihr Konto bei den sozialen Medien wechseln, weil sie
Beleidigungen und Drohungen aller Art, einschließlich Morddrohungen, nicht mehr
ertragen können? Hat einer dieser Menschen jemals solche Erfahrungen gemacht?
Insofern ist es unerträglich, wenn angesichts des Terrors
der extremen Rechten von denjenigen abgewiegelt wird, die meinen, über
Rassismus zu sprechen, bedeute, ihn zu fördern. Dies spricht vielmehr für ihre
Gleichgültigkeit gegenüber rassistischem Leid und rassistischer Gewalt. Seit
langem leben Neonazis und rassistische Mörder, wie der Mörder von Bruno Candé
Marques von dieser Gleichgültigkeit und dem Abwiegeln derjenigen, die
„Vernunft“ walten lassen wollen, um den Rassismus nicht bekämpfen zu müssen.
Gelassenheit und Zurückhaltung und/oder Schweigen angesichts rassistischer Gewalt
ist eine Form der Komplizenschaft, der kein Demokrat hinnehmen kann. Solange
der Rassismus moralisch und ethisch nicht anderen Arten von Gewalt gegen die
Menschenwürde gleichgesetzt wird, werden sich die Menschen weiterhin von den
Institutionen abwenden und sich wenig in den politischen Kampf gegen den
Rassismus einbringen.
Bittet mich nicht um Ruhe oder Zurückhaltung, denn ich bin eurer
Bitten überdrüssig. Wie lange werdet ihr mich noch beschuldigen, für den
Rassismus, dessen Opfer ich bin, verantwortlich zu sein? Wie lange werdet ihr
noch sagen, dass ich genauso bin wie diejenigen, die mich vergewaltigen und töten
wollen? Wie lange werdet ihr mich noch bitten, zu warten, während ihr
meinesgleichen tötet oder damit droht? Wie lange noch? Oder haben sie noch
nicht begriffen, dass mit jedem Mord oder Androhung eines rassistischen Mordes auch
die hehren Werte der Menschlichkeit sterben, die sie so gerne predigen? Nur
wenn sie akzeptiert, dass diese hehren Werte der Menschlichkeit obsolet sind, kann
eine politische Gemeinschaft es hinnehmen, sich nicht durch Morddrohungen aus
Rassenhass bedroht zu fühlen. Deshalb erwarte ich von denen, die den Rassismus
hartnäckig leugnen oder kleinreden, nur so viel Anstand, dass sie die
Intelligenz und den Mut haben, den Rassismus zu töten, bevor er uns tötet. Für
mich, wie auch für die überwältigende Mehrheit der rassisch diskriminierten
Menschen, wird es immer schwieriger, diese Luft zu atmen, und es ist für uns
bereits unerträglich zu sehen, wie die Gesellschaft und ihre Institutionen auf
unser Leid und unsere Schmerzen pfeifen. Wir haben überlebt, weil es uns nie an
Mut gefehlt hat, den Rassismus, der unser Leben erstickt, unablässig zu
bekämpfen. Wir werden dies auch weiterhin tun, koste es, was es wolle. Es
bleibt abzuwarten, wie lange es der Gesellschaft und ihren Institutionen noch
an Mut fehlen wird, sich dem Ungeheuer zu stellen. Entweder wir töten das
Ungeheuer oder es wird uns alle töten.
Deshalb gibt es nur eine Wahl, wenn wir eine gemeinsame
Zukunft haben wollen: die Demokratie verteidigen, solange noch Zeit bleibt, und
der Barbarei der extremen Rechten entschlossen entgegentreten.
14. August 2020
Übersetzung aus dem Englischen:
MiWe
Diesen Artikel hat Mamadou Ba, der Vorsitzende von SOS
Racismo, für die portugiesische Wochenzeitung Expresso geschrieben. Eine Übersetzung ins Englische ist am 19. 8.
2020 mit seiner Zustimmung auf der Website „International Viewpoint ‒ News and analysis from the
Fourth International“ veröffentlicht worden.
Quelle: http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article6776;
„Não me peçam calma porque estou cansado dos vossos pedidos. Até quando continuarão a dizer que eu sou igual àqueles que me querem matar?“, in: Expresso, 14.8.2020, https://expresso.pt/cronica/2020–08-14-Nao-me-pecam-calma-porque-estou-cansado-dos-vossos-pedidos.-Ate-quando-continuarao-a-dizer-que-eu-sou-igual-aqueles-que-me-querem-matar-
[1]
Aus dem Gedicht „If We Must Die” des jamaikanischen Dichters und Romanautors Festus
Claudius „Claude“ McKay (1889–1948).
[2]
Die drei weiblichen schwarzen Abgeordneten sind: Joacine Katar Moreira als
unabhängige Kandidatin, Beatriz Gomez Diaz vom Linksblock (BE) und Romualda
Fernandes von der Sozialistischen Partei (PS). André Ventura wurde als
Abgeordneter der von ihm gegründeten rechten, nationalistischen und
populistischen Partei Chega! (Es reicht!) gewählt.
[3]
Zielscheiben dabei waren u. a. Joacine Katar Moreira, Beatriz Gomez Diaz,
Mariana Mortágua (BE-Abgeordnete) und Mamadou Ba, führendes Mitglied von
SOS-Rassismus (Portugal).