Die Maske ist ein Symbol
Gleich
vorweg: Nein – dies wird keine Kritik an der Maske, denn die Maske ist ein
Symbol für Solidarität. Wer eine Maske trägt, verhält sich solidarisch
gegenüber den Schwächeren in der Gesellschaft, die an einer Corona-Infektion
leiden (und ggf. sterben) könnten. Aber wenn wir Solidarität in den Mittelpunkt
setzen, wenn wir eine solidarische Gesellschaft anstreben, dann müssen die
Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie (allg. Corona-Maßnahmen genannt)
grundsätzlich anders ausgerichtet und die Kriterien für die Verschärfung der
Maßnahmen anders gewählt werden.
… war es absolut vertretbar, mit einem gesellschaftlichen Lockdown die Verbreitung einzudämmen.
Doch
zunächst ist es notwendig sich zu vergegenwärtigen, warum die Maßnahmen zur
Eindämmung der Pandemie eingeführt wurden. Als die Pandemie Anfang 2020 in
Europa Fuß fasste, die Bilder der Toten in Bergamo und Madrid zu Panik auf dem
ganzen Kontinent führten, aber das Virus und sein Wirken unzureichend bekannt
waren, war es absolut vertretbar, mit einem gesellschaftlichen Lockdown die
Verbreitung einzudämmen. Dabei waren Erkenntnisse über die Mortalität
(Sterblichkeit) des Virus, also die Wahrscheinlichkeit einer tödlich
verlaufenden Infektion, als auch über Behandlungsmöglichkeiten einer
COVID19-Erkrankung kaum vorhanden. Bekannt war nur die Möglichkeit einer
Erkrankung mit Fieber und Atembeschwerden bei einem Teil der Infizierten,
welche einen so schweren Verlauf nehmen könnte, dass eine intensivmedizinische
Behandlung notwendig werden und ggf. der Tod eintreten könnte. Ein
exponentieller Anstieg der Fälle wurde erkannt – ungebremst infizierte jede
Corona-positive Person anfangs circa drei weitere Personen (Reproduktionszahl
R=3), diese drei dann weitere neun Personen, usw. Damit war klar, dass bei
exponentiellem Wachstum die Intensivbetten nicht reichen würden, somit
Betroffene nicht behandelt werden könnten und die Mortalität höher ausfallen
würde. Dies führte in Norditalien, Madrid, New York und anderswo zu seit dem
Zweiten Weltkrieg nicht mehr gekannten Szenen bis hin zu Massengräbern, die zu
den bekannten Lockdown-Maßnahmen führten.
Das Ziel der
Maßnahmen
Ziel der
Corona-Maßnahmen war es, die Reproduktionszahl zu reduzieren, um eine
Überlastung des Gesundheitssystem zu vermeiden und somit eine allein auf die
Überlastung des Gesundheitssystems zurückzuführende Übersterblichkeit zu
verhindern. Es wurde in Europa nie das Ziel der Ausrottung des Virus
erklärt – dagegen war dies das erklärte Ziel der Maßnahmen in Neuseeland,
welches auch fast erreicht wurde. Durch die Reduktion der Reproduktionszahl
sollte Zeit gewonnen werden: Zeit zur Entwicklung einer Impfung und
Behandlungsmöglichkeiten.
Alle
Corona-Maßnahmen waren darauf ausgerichtet, einen ausreichenden Abstand
zwischen Menschen und eine höhere Hygiene zu erreichen. Da der Abstand nicht
immer eingehalten werden kann, kam die Alltagsmaske dazu. Menschenansammlungen
wurden unterbunden. Dies führte zu einer Reduktion der Reproduktionszahl auf 1
(phasenweise unter 1), so dass das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu
kommen schien. Gleichzeitig konnten Ärztinnen und Ärzte ihrer Erfahrungen mit
der COVID19-Erkrankung erweitern und damit die Behandlung optimieren – als
Beispiel sei die international anerkannte Arbeit um den Intensivmediziner Kluge
aus Hamburg zu nennen, der herausfand, dass eine Blutverdünnung bei COVID-19
lebensrettend sein kann. Diese positive Entwicklung führte dann logischerweise
zur Rücknahme einiger Corona-Maßnahmen und der Hoffnung auf eine weitere
Normalisierung. Und es wurde – recht willkürlich – eine Zahl von 50/100.000
Neuinfektionen/Woche für die Wiedereinführung strengerer Maßnahmen festgelegt.
Zweite Welle?
Diese
Hoffnung ist nun durch den erneuten Anstieg an testpositiven Coronafällen stark
gebremst worden. Dieser Anstieg wird von Politiker*innen und Epidemiolog*innen
als Warnung vor einer zweiten Welle und Begründung für das Fortbestehen von
Maßnahmen genutzt, während andere sogar behaupten, wir befänden uns längst
schon in der zweiten Welle, die mit dem Beginn des Herbstes und einer damit
verbundenen Erkältungssaison sowie mit dem Rückzug in die Gebäude nach
monatelangem schönwetterbedingtem Aufenthalt im Freien und der damit
verbundenen Einschränkung des Lüftens gefährliche Ausmaße annehmen könne.
Aber:
Befinden wir uns wirklich in einer zweiten Welle, nur weil die absoluten Zahlen
wieder gestiegen sind? Welche Bedeutung haben diese absoluten Zahlen, wenn zur
gleichen Zeit keine Zunahme von Hospitalisierungen, Intensivbehandlungen und
Todesfällen zu verzeichnen ist?
In einer
Stellungnahme vom 8.9.2020 kommt das Deutsche Netzwerk Evidenz-basierte Medizin
e.V. (EbM-Netzwerk) zu dem Schluss, dass die irreführenden Meldungen in der
medialen Berichterstattung über die absoluten Zahlen ohne Bezugsgröße beendet
werden sollten, da die derzeitige Situation keine einschneidenden Maßnahmen
rechtfertige und nicht auszuschließen sei, „dass die trotz weitgehend fehlender
Evidenz ergriffenen Maßnahmen inzwischen größeren Schaden anrichten können als
das Virus selbst“ (https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/covid-19).
Inzwischen sei klar, dass die Menschheit sich wahrscheinlich dauerhaft auf die
Existenz des Virus einstellen muss und wir eine bestmögliche Strategie
brauchen, „die einerseits der Erkrankung entgegenwirkt und andererseits die
Lebensqualität und Gesundheit der Menschen nicht durch Kollateralschäden der
Eindämmungsmaßnahmen gefährdet“.
Kollateralschäden
gefährlicher als die Krankheit?
Anfangs bestand eine ausgeprägte Angst vor der Krankheit, da die Anzahl der Todesfälle im Verhältnis zu den nachgewiesenen Fällen eine Mortalität von fast 10 Prozent suggerierte. Mittlerweile ist bekannt, dass unter Berücksichtigung der Dunkelziffer (Menschen ohne Symptome, die nie getestet werden) eher von einer Mortalität von circa 0,5 Prozent ausgegangen werden muss, verschiedene Studien konnten das bestätigen. Damit ist COVID-19 weiterhin gefährlicher als die Grippe (Mortalität von circa 0,1 Prozent), erst recht gefährlicher, wenn die teilweise noch nicht bekannten Langzeitfolgen einer COVID19-Erkrankung – neurologische Ausfälle, Herzbeteiligung u.a. – berücksichtigt werden. Entscheidend für die im März 2020 festgestellte Übersterblichkeit in verschiedenen Ländern war aber die Überlastung des Gesundheitssystems, was in Deutschland erfreulicherweise nie der Fall war.
Von den
circa 30.000 Intensivbetten in Deutschland lag die maximale Auslastung wegen
COVID-19 am 22.4.2020 bei 2922 Intensivfällen (Auslastung 9,7 Prozent), während
diese Zahl nun seit Wochen unter 300 Intensivfällen liegt (am 7.9.2020 waren es
228 Intensivfälle, 134 davon beatmet). Daran wird deutlich, dass eine
Überlastung des Gesundheitssystems vermieden werden konnte und derzeit erst
recht nicht zu befürchten ist. Eine Rückbesinnung auf das Ziel der
Eindämmungsmaßnahmen als Kriterium für Lockerung oder Verschärfung ist daher
notwendig – deswegen müssen die Zahlen über Hospitalisierungen,
Intensivbehandlungen und Todesfällen in den Vordergrund gerückt werden, nicht
die Zahl der Neuinfektionen.
Die
Eindämmungsverordnungen müssen weiterhin überprüft werden um festzustellen, ob
wirklich ein Eindämmungseffekt verzeichnet werden kann und nicht nur
Kollateralschäden erzielt werden.
Die Maske – ein Reizthema
Hier ist
zunächst das Reizthema Maske unter die Lupe zu nehmen: Wissenschaftliche
Untersuchungen attestieren dem Mund-Nasen-Schutz im Community-Setting eine
signifikante Reduktion der Infektionszahlen – den chirurgischen Masken erst
recht. Relativiert wird der Effekt nur durch die Tatsache, dass es bei der
niedrigen Zahl von Infizierten sowieso sehr unwahrscheinlich ist, einem Test-Positiven
zu begegnen, so dass die Risikoreduktion durch die Maske in Regionen mit sehr
niedrigen Infektionszahlen verschwindend gering ist. Trotzdem kann im kommenden
Herbst und Winter die Nutzung der Maske insgesamt eine sehr sinnvolle Maßnahme
sein.
Weniger klar – der Effekt von Schließungen
Deutlich
weniger evident sind die Effekte der Schulschließung bei der Eindämmung der
Infektionszahlen. Angesichts der niedrigen Infektionszahlen bei Kindern und der
wissenschaftlich erarbeiteten, sehr niedrigen Effekte der Reduktion der
Infektionszahlen durch Schulschließungen müssen die unabsehbaren, negativen
Effekte in den Vordergrund gestellt werden – hier scheint der Kollateralschaden
(erhebliche psychische Belastungen und Bildungsverluste von Kindern) weit höher
als der Effekt der Maßnahmen zu sein.
Bei der
Schließung von Arbeitsplätzen wäre es notwendig, wissenschaftliche
Untersuchungen über die Infektionsgefahr in verschiedenen Arbeitssettings
durchzuführen, um angemessene Hygienevorschriften zum Schutz der Werktätigen
einführen zu können.
Den Gedanken der Solidarität in den Mittelpunkt rücken – deutliche Distanzierung von Coronaleugnern
Stattdessen
fokussiert die Politik auf aufwändige Konzepte, wie Fußballstadien wieder mit
Zuschauern gefüllt werden und andere Großveranstaltungen wieder stattfinden
können. Gerade in den Bereichen Schule und Arbeit muss der Gedanke der
Solidarität in den Mittelpunkt gerückt werden – und dazu gehört eben nicht nur
die Eindämmung der Pandemie, sondern auch die Berücksichtigung der
Kollateralschäden. Um sich da deutlich von den Coronaleugnenden zu
distanzieren, müssen wir eine andere mediale Betrachtung der Pandemie (Krankheitszahlen
statt absoluten Zahlen) und eine wissenschaftliche Untersuchung der
Eindämmungsmaßnahmen einfordern.
Der Autor ist Mitglied im Vorstand des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää).
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