Zeit ist immer ein wichtiger Faktor in Politik und Geschichte, aber nie war sie so wichtig wie in der Frage des Klimawandels.
Zeit – wofür?
Die Warnung des Weltklimarats in seinem Bericht vom Oktober
2018, dass die Welt zwölf Jahre Zeit hat, um eine Klimakatastrophe zu
vermeiden, war zweifellos ein wichtiger Faktor, der eine globale Welle des
Klimaaktivismus ausgelöst hat, insbesondere in Form der von Greta Thunberg
angestoßenen Massenschulstreiks und der Bewegung Extinction Rebellion. Andererseits
ist klar, dass diese Warnung von verschiedenen Menschen auf unterschiedliche
Weise „verstanden” oder interpretiert werden konnte und wurde. In diesem
Artikel möchte ich auf einige dieser Interpretationen und ihre Implikationen
eingehen, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob uns noch Zeit für einen Systemwandel
bleibt oder ob wir uns, weil die Zeit zu knapp dafür ist, auf Veränderungen konzentrieren,
die im Rahmen des Kapitalismus umgesetzt werden können, und uns damit
bescheiden müssen.
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Zeit ist relativ
Zunächst möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass manch ein
opportunistischer Politiker diese „Zwölfjahreswarnung“ ganz anders verstanden
hat als Greta und ihre Anhänger*innen. Denn für sie wären zwölf Jahre eine sehr
lange Zeit: drei US-Präsidentschaftsperioden, zwei volle Legislaturperioden in
Großbritannien und vielen anderen Ländern; mit anderen Worten: mehr als genug
Zeit, um Eure Ansprüche umzusetzen, Euren Platz in den Geschichtsbüchern zu
sichern oder zumindest Eure Rente und mehrere Direktorenposten zu sichern,
bevor überhaupt ernsthaft etwas unternommen werden müsste. Die einzige
praktische Konsequenz dieser Zwölfjahreswarnung wäre dann die Erfordernis,
verschiedene Kommissionen einzurichten, einige Aktionspläne auszuarbeiten, an
einigen Konferenzen teilzunehmen und darüber hinaus ein gewisses Maß an „greenwashing”
zu betreiben. Für einen Vorstand eines großen Öl‑, Gas- oder Autokonzerns würde
dann genau dasselbe gelten.
Am anderen Ende des Spektrums gab es eine große Zahl von
Menschen, vor allem junge Leute, die die Warnung so „verstanden” haben,
dass es buchstäblich nur zwölf Jahre gibt, um eine globale Auslöschung zu
verhindern.
Eine Perspektive – zig Interpretationen
Diese Fehlinterpretationen dürfen nicht gleichgesetzt
werden: Die erste ist äußerst zynisch und immens schädlich für Mensch und Natur
gleichermaßen; die zweite ist naiv, aber gut gemeint. Aber es sind beides
Fehlinterpretationen dessen, was der Bericht sagt, und dessen, was der
Klimawandel ist. Der Klimawandel ist kein Ereignis, das 2030 eintreten könnte
oder auch nicht, und das durch Notfallmaßnahmen in letzter Minute abgewendet
werden könnte, sondern ein Prozess, der bereits im Gange ist. Jede Woche, jeder
Monat oder jedes Jahr, in denen sich die Reduzierung der Kohlenstoffemissionen
verzögert, verschärft das Problem und macht es schwieriger, es in den Griff zu
bekommen. Umgekehrt gibt es keine absolute Frist, nach deren Ablauf es zu spät
ist, etwas zu tun und wir also genauso gut den Geist aufgeben könnten.
“Auslöschung” oder “Erfordernisse”?
Der Schwerpunkt des IPCC-Berichts lag nicht auf dem Aspekt
der „Auslöschung”, sondern vorwiegend darauf, was erforderlich wäre, um
die globale Erwärmung auf 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau zu halten,
und was die wahrscheinlichen Auswirkungen wären, wenn 2 °C erreicht würden. In der Zusammenfassung für
die politischen Entscheidungsträger heißt es wörtlich:
„Menschliche Aktivitäten haben etwa 1,0 °C globale Erwärmung gegenüber vorindustriellem Niveau verursacht, mit einer wahrscheinlichen Bandbreite von 0,8 °C bis 1,2 °C. Die globale Erwärmung erreicht 1,5 °C wahrscheinlich zwischen 2030 und 2052, wenn sie mit der aktuellen Geschwindigkeit weiter zunimmt. […]“
Recht eindeutig heißt es dann:
„Klimabedingte Risiken für Gesundheit, Lebensgrundlagen, Ernährungssicherheit und Wasserversorgung, menschliche Sicherheit und Wirtschaftswachstum werden laut Projektionen bei einer Erwärmung um 1,5 °C zunehmen und bei 2 °C noch weiter ansteigen.“[1]
Ich zitiere diese Passagen nicht, weil ich den Bericht des
Weltklimarats als sakrosankt oder als der Weisheit letzten Schluss zu diesen
Fragen betrachte. Mir scheint im Gegenteil klar, dass der Bericht in seinen
Vorhersagen konservativ war – was nicht überrascht, da seine Methode den
Konsens von Tausenden von Wissenschaftler*innen erforderte – und dass die
globale Erwärmung und, was entscheidend ist, ihre Auswirkungen in Wirklichkeit
schneller voranschreiten als vom IPCC erwartet.[2]
Klimawandel oder Katasrophe?
Ich möchte vielmehr zeigen, dass wir nach dem Weltklimarat
und nach jedem ernsthaften Verständnis des Klimawandels nicht vor einer Klippe
stehen, von der wir alle im Jahr 2030 oder zu einem anderen genau
vorhersehbaren Zeitpunkt fallen werden, sondern um einen rasch voranschreitenden
Prozess mit zunehmend katastrophalen Auswirkungen. Innerhalb dieses Prozesses
wird es höchstwahrscheinlich Kipp-Punkte geben, an denen sich das Tempo des
Wandels sehr schnell beschleunigt und bestimmte Veränderungen unumkehrbar
werden. Aber niemand weiß genau, wann das sein wird, und selbst dann werden wir
immer noch von einem Prozess sprechen, der nicht zu einer sofortigen totalen
Auslöschung führt.
Ein korrektes, wissenschaftlich fundiertes Verständnis
dieses Prozesses ist von entscheidender Bedeutung. Sich als Aktivist*innen auf eine
Art Countdown einzulassen, als gäbe es eine feste Zeitlinie – wir haben jetzt
nur noch zehn Jahre, neun Jahre, acht Jahre …, um den Planeten zu retten –,
ist wahrscheinlich nicht hilfreich. Wir wollen auch nicht der Panikmache
geziehen werden, wenn die Welt dann doch nicht untergeht. Dieses Verständnis
ist auch wichtig als Grundlage für den Umgang mit der entscheidenden Frage, ob nämlich
noch die Zeit für einen Systemwechsel bleibt.
Bleibt Zeit für den “Systemwechsel”?
Das Argument, dass nicht mehr genug Zeit für einen
„Systemwechsel” bleibt, womit ich den Sturz des Kapitalismus meine, gibt
es in der Umweltbewegung schon lange, auch schon lange vor der „Zwölfjahreswarnung“.
Ich erinnere mich, dass es in der Kampagne gegen den Klimawandel energisch (und
voller Wut) gegen einen ziemlich glücklosen Trotzkisten vorgebracht wurde, als
ich mich Anfang der neunziger Jahre zum ersten Mal daran beteiligte. „Es ist
keine Zeit, auf deine Revolution zu warten”, wurde ihm gesagt.
“Keine Zeit mehr” – ein Argument des Kapitalismus?
Nun kann dieses Argument der „fehlenden Zeit“ natürlich von
Leuten, die eigentlich prokapitalistisch sind, als Vorwand benutzt werden. Aber
es kann auch in gutem Glauben von Leuten vorgebracht werden, die die
Abschaffung des Kapitalismus begrüßen würden, wenn sie eine praktische Chance
dafür sähen. Als Beispiel dafür zitiere ich Alan Thornett, dessen lebenslanges
Engagement als Sozialist außer Zweifel steht. In seinem Buch Facing the Apocalypse: Arguments for
Ecosocialism schreibt Alan Thornett:
„Die Standardlösung, die von den meisten in der radikalen Linken propagiert wird …, ist der revolutionäre Sturz des globalen Kapitalismus – implizit innerhalb der nächsten zwölf Jahre, denn so lange bleibt uns nur noch …
Ein solcher Ansatz ist maximalistisch, linksradikal und nutzlos. Wir alle können als Sozialist*innen mit beiden Händen für die Abschaffung des Kapitalismus stimmen, und das ist in der Tat unser langfristiges Ziel. Aber als Antwort auf die globale Erwärmung innerhalb der nächsten 12 Jahre macht es keinen Sinn.
Dem Sozialismus mangelt die Glaubwürdigkeit?
Es handelt sich dabei um „mangelnde Glaubwürdigkeit“: Während ein katastrophaler Klimawandel tatsächlich vor Augen steht, kann dasselbe von einer globalen sozialistischen Revolution kaum mit derselben Glaubwürdigkeit gesagt werden – es sei denn, ich habe etwas verpasst. Es mag nicht unmöglich sein, aber es ist eine viel zu ferne Perspektive, um eine Antwort auf die globale Erwärmung und den Klimawandel zu geben …
Um es ganz offen zu sagen: Wenn der Umsturz des globalen Kapitalismus in den verbleibenden 12 Jahren die einzige Lösung für die globale Erwärmung und den Klimawandel ist, dann gibt es keine Lösung für die globale Erwärmung und den Klimawandel.“[3]
Alan hat hier das Argument, das ich anfechten möchte, sehr
deutlich zum Ausdruck gebracht.
Das ewige Zusammenspiel von Reform und Revolution
Zunächst einmal ist zu sagen, dass für ernsthafte
Sozialist*innen und Marxist*innen (angefangen bei Marx, Engels und Rosa
Luxemburg) der Kampf für die Revolution dem Kampf für Reformen in keiner Frage
entgegensteht. Vielmehr ist Revolution etwas, das aus dem Kampf für konkrete
Forderungen erwächst.[4] So
wie die Marxist*innen die Überzeugung, dass die einzige Lösung für die
Ausbeutung die Abschaffung des Lohnsystems ist, mit der Unterstützung des
gewerkschaftlichen Kampfes für Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen
verbinden, so können sie für unmittelbare Forderungen wie kostenlose
öffentliche Verkehrsmittel, das Belassen fossiler Brennstoffe im Boden und
massive Investitionen in erneuerbare Energien kämpfen und gleichzeitig eine
ökosozialistische Revolution befürworten. Auf diese Weise wird auf eine
praktische Probe gestellt, ob ein ökologisch nachhaltiger Kapitalismus möglich
ist.
Welchen Sinn hätte es, abgesehen von einem abstrakt moralischen Standpunkt, sich auf Themen wie Recht der Arbeiter*innen auf einen Arbeitsplatz, Antirassismus, Rechte der Frauen auf den eigenen Körper, LGBTQ-Rechte etc. zu konzentrieren, wenn in den nächsten Jahren das Überleben der Menschheit auf dem Spiel steht?
Aber damit ist die Frage noch nicht ausreichend beantwortet.
Wenn man davon ausgeht, dass eine Revolution in zu weiter Ferne liegt und sie daher
als Lösung des Klimaproblems realiter kaum infrage kommt, dann sollten
Klimaaktivisten in der Praxis all ihre Energien einfach darauf konzentrieren,
Reformen durchzusetzen, anstatt auf eine Revolution zu setzen und sich
entsprechend zu organisieren. Außerdem sollte man sich überwiegend auf die Reformen
konzentrieren, die nur diese Frage betreffen. Welchen Sinn hätte es, abgesehen
von einem abstrakt moralischen Standpunkt, sich auf Themen wie Recht der
Arbeiter*innen auf einen Arbeitsplatz, Antirassismus, Rechte der Frauen auf den
eigenen Körper, LGBTQ-Rechte etc. zu konzentrieren, wenn in den nächsten Jahren
das Überleben der Menschheit auf dem Spiel steht?
… dass wir von der Chance, den Klimawandel auf kapitalistischer Basis zu bewältigen, meilenweit entfernt sind…
Wenn man jedoch davon ausgeht, dass sich der Kapitalismus in
dieser Hinsicht als nicht oder nur unzureichend reformierbar erweisen wird,
dann ist es notwendig, ökosozialistische Kampagnen mit revolutionärem
Aktivismus, Propaganda und Organisation auf breiterer Front zu verbinden und
anzuerkennen, dass eine Revolution die Massenmobilisierung der arbeitenden
Menschen zu unterschiedlichsten Themen und ihre Einheit angesichts der
obwaltenden Strategie des Teilens und Herrschens erfordert.
Dies wirft dreierlei Fragen auf:
- Wie wahrscheinlich ist es, dass der Klimawandel durch Reformen im Rahmen des kapitalistischen Systems aufgehalten oder eingedämmt werden kann?
- Wie entfernt eine mögliche sozialistische Revolution?
- Gibt es Alternativen dazwischen?
Zur ersten Frage haben ich und andere Ökosozialisten (namentlich John Bellamy Foster, Ian Angus, Michael Löwy, Martin Empson, Amy Leather etc.) wiederholt und ausführlich argumentiert, dass wir von der Chance, den Klimawandel auf kapitalistischer Basis zu bewältigen, meilenweit entfernt sind, sei es in zwölf, zwanzig oder vierzig Jahren.[5] Ich will hier nicht alle Argumente wiederholen, sondern nur sagen, dass der Kapitalismus ein System ist, das von Natur aus und unaufhaltsam durch die konkurrierende Kapitalakkumulation auf einen Kollisionskurs mit der Natur getrieben wird, und die Industriezweige für fossile Brennstoffe – Öl, Gas und Kohle – bei dieser Kapitalakkumulation eine so zentrale Rolle spielen, dass es keine realistische Aussicht darauf gibt, dass sich der Kapitalismus aus seiner Abhängigkeit von ihnen befreien könnte.
Zur zweiten Frage möchte ich zugeben, dass, wenn die Zukunft, sagen wir die nächsten zwölf Jahre, der unmittelbaren Vergangenheit, sagen wir den letzten fünfzig Jahren, ähnelt, die Chance auf eine internationale sozialistische Revolution tatsächlich sehr weit entfernt erscheint. Aber allein der erkennbare Klimawandel sorgt dafür, dass das nächste Jahrzehnt ganz und gar nicht der Vergangenheit ähneln wird. Im Gegenteil, gerade die durch die globale Erwärmung verursachten Bedingungen – immer unerträglichere Hitze, Dürren, Brände, Stürme, Überschwemmungen etc. – werden das Bewusstsein der meisten Menschen verändern, nämlich dass der Kapitalismus gestürzt werden muss und eine Revolution machbar ist.
Die immer schärfere Klimakrise wird mit einer umfassenderen
Umweltkrise (in einer Vielzahl von Formen), einer sich vertiefenden und
wiederkehrenden Wirtschaftskrise (wie es derzeit offensichtlich ist) und
verschärften internationalen geopolitischen und militärischen Spannungen (z.B.
mit China und Russland) einhergehen. Diese Tendenzen werden sich durch ihre
Wechselwirkungen untereinander noch verstärken.
Keine genauen Fristen
Hier kommt die eingangs getroffene Feststellung, dass die „zwölf
Jahre” keine genaue oder endgültige Frist darstellen (können), wieder ins
Spiel. Wenn, wie ich es für überaus wahrscheinlich halte, der Kapitalismus
nicht in der Lage ist, die Erwärmung auf 1,5 °C zu halten, bedeutet dies
nicht, wie Thornett annimmt, dass das Spiel vorbei und der Kampf beendet ist,
sondern dass alle oben beschriebenen Bedingungen und Katastrophen sich
verschärfen und dabei die Wahrscheinlichkeit einer Massenrevolte und Revolution
erhöhen werden.
… eine Perspektive, die durch die aufflammenden Kämpfe der letzten Zeit sogar noch plausibler geworden ist.
Viele Menschen können sich eine Revolution in einem Land
vorstellen, halten es aber für wenig wahrscheinlich, dass eine Revolution auf
internationaler oder globaler Ebene ausbrechen könnte. Wenn mit internationaler
Revolution eine gleichzeitige, weltweit koordinierte Rebellion gemeint ist, so
ist dies in der Tat äußerst unwahrscheinlich, aber dies war nie das Szenario,
das sich die Anhänger einer internationalen Revolution vorgestellt haben.
Vielmehr ist es so, dass sich die Revolution, die in einem Land – Brasilien
oder Ägypten, Irland oder Italien – beginnt, in einer langen, aber
kontinuierlichen Reihe von Kämpfen auf andere Länder ausbreiten könnte. Dies
ist eine Perspektive, die durch die aufflammenden Kämpfe der letzten Zeit sogar
noch plausibler geworden ist.
Arabischer Frühling, Occupy, Gelbwesten, Klimastreik, Black Lives Matter
Der Klimawandel ist ein internationales Problem wie kein anderes zuvor.
Da ist zunächst der arabische Frühling 2011, der zu einer
Kettenreaktion von Aufständen von Tunesien bis Ägypten, Libyen, Bahrain und
Syrien geführt hat und an dem sich auch kleinere, aber immer noch bedeutende
Aufstände – etwa die „Empörten“ in Spanien oder Occupy Wallstreet in den USA –
orientiert haben. Dann gab es 2019 eine Welle von Massenrevolten auf der ganzen
Welt – die französischen Gelbwesten, Sudan, Haiti, Hongkong, Algerien, Puerto
Rico, Chile, Ecuador, Irak, Libanon etc.[6] Hinzu
kamen die weltweiten Schülerstreiks und, in diesem Jahr, sogar mitten in der
Pandemie, die globale „Black Lives Matter“-Bewegung. Dies zeigt, dass sich in
der heutigen globalisierten Welt Revolten mit erstaunlicher Reichweite und
Schnelligkeit international ausbreiten können. Die internationalen Auswirkungen
einer sozialistischen Revolution in irgendeinem Land wären immens. Dies gilt
umso mehr, wenn die Revolution – was zwangsläufig so sein wird – an zentraler
Stelle durch den Kampf gegen den Klimawandel und die Umweltzerstörung motiviert
ist. Denn welche Debatten über den Sozialismus in einem Land in der
Vergangenheit auch immer geführt wurden, es wird überdeutlich sein, dass keine
Revolution in Südafrika oder Frankreich, Indonesien oder Chile in der Lage sein
wird, den Klimawandel zu bekämpfen, wenn die USA, China, Russland und Indien
weitermachen wie bisher. Der Klimawandel ist ein internationales Problem wie
kein anderes zuvor.
Zwei Alternativen – eine ist greifbar.
Sucht man nach anderen Alternativen, den Kapitalismus
entweder nachhaltig zu machen oder ihn revolutionär zu stürzen, bieten sich zwei
an: Es gibt die Perspektive bzw. Strategie, den Kapitalismus durch den Sieg bei
einer Parlamentswahl in einen Sozialismus zu verwandeln – was man die
Corbyn-Strategie nennen könnte; und es gibt die „Alternative” der
faschistischen/autoritären Barbarei. Die erste ist leider illusorisch; die
zweite, noch bedauerlicher, ist nur allzu real.
Corbyn, Kautsky- scheinabr praktisch, dann katastrophal
Was ich die Corbyn-Strategie (in ihrer jüngsten Version)
genannt habe, hat eine sehr lange Tradition und geht zumindest auf Karl Kautsky
und die deutsche Sozialdemokratische Partei vor dem Ersten Weltkrieg zurück. In
der Praxis hat sie stets zu katastrophalen Folgen geführt, sei es in
Deutschland selbst, in Italien während der „Roten Jahre“[7], in
Chile 1970–73 oder unter Syriza in Griechenland oder auch mit Corbyn (außer
dass es ihm nicht gelang, die dafür erforderlichen Parlamentswahlen zu gewinnen).
Oberflächlich betrachtet erscheint diese Strategie enorm
praktischer und plausibler als eine Revolution, aber in Wirklichkeit ist sie
grundlegend falsch. Die gegenwärtig herrschende kapitalistische Klasse wird
weder in einem Land noch international aufgrund eines Wahlsieges der
Sozialist*innen abtreten, d. h. ihre Macht aufgeben. Im Gegenteil, sie
wird ihre gesamte wirtschaftliche Macht (durch Investitionsstreiks, Kapitalflucht,
Währungsangriffe etc.), ihre soziale und ideologische Hegemonie, insbesondere
über die Medien, und, was entscheidend ist, ihre Kontrolle über den Staat
einsetzen, um eine potentielle sozialistische Regierung gefügig zu machen oder,
falls nötig, zu zerstören.[8] Eine
solche Sabotage könnte nur durch die revolutionäre Mobilisierung der
Arbeiterklasse bekämpft und überwunden werden. Deshalb ist diese Option bei all
ihren fortschrittlichen Absichten eine Illusion; sie wird entweder zur
Revolution werden, die sie eigentlich vermeiden wollte, oder sie wird sich in
Luft auflösen.
Die autoritäre Option wird attraktiver für die Mittelschicht
Was die faschistische/autoritäre Option anlangt, wissen wir
aus bitterer Erfahrung, etwa in Italien, Deutschland, Spanien, Portugal, Chile
und anderen Ländern, dass dies eine reale Möglichkeit ist, die in vielerlei
Hinsicht die Kehrseite der Medaille des Scheiterns der reformistischen Option
darstellt. Und wenn wir heute auf der Welt das kapitalistische System
betrachten, das in einer multidimensionalen Krise steckt, sehen wir eine wachsende
politische Polarisierung, in der sich die Kräfte der extremen Rechten in vielen
verschiedenen Ländern zusammenrotten. Es ist bittere Tatsache, dass drei große
Länder (die USA, Brasilien und Indien) unter rechtsextremer, wenn nicht sogar vollständig
faschistischer Kontrolle stehen und dass eine beträchtliche Anzahl anderer
Länder von höchst autoritären Regimen regiert wird.
Auf lange Sicht wird der Faschismus die globale Erwärmung nicht aufhalten, aber dies würde sich erst zeigen, wenn wir zuvor die finsteren Jahre einer Barbarei durchlebt haben.
In dem Maße, wie die Klimakrise und mit ihr die Zahl der
Klimaflüchtlinge zunimmt, wird die autoritär-faschistische Option für die in
Panik geratene herrschende Klasse und einige ihrer Anhänger*innen aus der
Mittelschicht immer attraktiver erscheinen. Auf lange Sicht wird der Faschismus
die globale Erwärmung nicht aufhalten, aber dies würde sich erst zeigen, wenn
wir zuvor die finsteren Jahre einer Barbarei durchlebt haben.
Um auf die Frage zurückzukommen, ob noch die Zeit für einen
Systemwandel bleibt: Niemand kann die Zukunft genau vorhersagen,[9] aber
das bei weitem wahrscheinlichste Szenario ist, dass die sich beschleunigende
Klima- und Umweltkrise den Klassenkampf und die politische Polarisierung auf
allen Ebenen verschärfen wird. Dieser Prozess wird zunehmen, wenn sich die Welt
auf die 1,5°C‑Schwelle zubewegt, und sich fortsetzen, nachdem sie überschritten
ist. Die Bewegung wird sich nicht nur damit befassen müssen, wie wir den
Klimawandel abwenden oder stoppen können, sondern auch damit, wie wir mit
seinen verheerenden Auswirkungen umgehen: mit Barbarei oder Solidarität?
Der Kapitalismus in all seinen Formen wird sich zunehmend in
Barbarei verwandeln. Nur ein Systemwandel, die Überwindung des Kapitalismus
durch den Sozialismus, kann eine Alternative anbieten, die auf der Solidarität
der Arbeiterklasse und der Menschen beruht.
John Molyneux ist Chefredakteur der irischen Marxist Review und Mitglied des leitenden Komitees von Global Ecosocialist Network (GEN).
Aus: Climate & Capitalism vom 25.8.2020
Mehr Perspektiven gegen rechte Utopien? Rein in den Newsletter!
Übersetzung: MiWe
[1] Sonderbericht über 1,5 °C globale Erwärmung (https://www.ipcc.ch/sr15/chapter/spm/), 2018.
[2] Siehe John Molyneux, “How fast is the climate changing?« Climate & Capitalism,
2. August 2019.
[3] Alan Thornett, Facing the Apocalypse: Arguments for
Ecosocialism,
(Resistance Books, London. 2019), S. 95
[4] Das schlagendste Beispiel
hierfür ist die Russische Revolution, die aus der Forderung nach Brot, Land und
Frieden heraus entstanden ist. Dasselbe gilt natürlich für praktisch alle
Massenrevolutionen.
[5] Siehe etwa John Molyneux, “Apocalypse Now! Climate
change, capitalism and revolution’, Irish Marxist Review 25, 2019.
[6] John Molyneux, “A New Wave of Global Revolt?«
Rebel, 6. November 2019.
[7] Das Biennio rosso 1919/20,
in dem Norditalien eine revolutionäre Welle erlebt hat, wurde vom Biennio nero
der Jahre 1921 und 1922 abgelöst, das im Marsch auf
Rom der Fasci und der Machtübernahme Mussolinis
gipfelte.
[8] Näheres hierzu in “Understanding
Left Reformism,” Irish Marxist Review 6, 2013; und in Lenin
for Today, (Bookmarks, London, 2017), Kapitel 3.
[9] „In
Wirklichkeit kann man nur den Kampf„wissenschaftlich“vorhersehen, aber nicht seine konkreten Momente …
Antonio Gramsci, Gefängnishefte 11, § 15, S. 1400