Dossier
“Italien schränkt wegen der Corona-Pandemie die Produktion ein – und wir? „Plötzlich zählt die Arbeit“, schrieben Stephan Kaufmann und Eva Roth am 21. März in der Zeitung neues deutschland. In der Corona-Krise wird vielen die Bedeutung der Arbeit auf neue Weise klar. Fußball-Ultras, die aus ihren Stadien ausgesperrt sind, zeigen mit Transparenten in den Straßen ihre Anerkennung für die Beschäftigten in den Supermärkten und Krankenhäusern und fordern höhere Löhne für Pflegekräfte. Gleichzeitig weisen diese darauf hin, dass wir zuhause bleiben sollen, damit sie weiter arbeiten können. Um die Ausbreitung des Covid19-Virus einzudämmen und den Zusammenbruch des Gesundheitswesens abzuwenden, ist es notwendig, die Arbeit in allen nicht lebensnotwendigen Bereichen kurzfristig einzustellen. Doch diese Einsicht hat sich hierzulande noch nicht durchgesetzt; die Regierung will davon nichts wissen. (…) Klar ist, dass die lebensnotwendige gesellschaftliche Arbeit weitaus mehr umfasst als das Auffüllen der Supermarktregale und den Dienst in den Krankenhäusern. Damit wir essen können und medizinisch versorgt werden, sind komplexe Produktionsketten notwendig. (…) Nach welchen Kriterien die Auswahl der notwendigen Branchen erfolgte, ist nicht ganz klar. So soll z.B. auch im Finanzsektor ohne Einschränkungen weitergearbeitet werden. Sicherlich ist das Geld, wie Marx einmal formulierte, das „reale Gemeinwesen“, es hält die kapitalistische Gesellschaft zusammen (MEW 42, 152). Allerdings gibt es durchaus qualitative Unterschiede etwa zwischen der Aufrechterhaltung des Zahlungsverkehrs, der Kreditvergabe und den Spekulationsgeschäften an der Börse. Auch alle Call Centers dürfen weiter arbeiten. (…) Die italienische Regierung hat von oben herab entschieden; Einschätzungen der Beschäftigten, ob ihre Arbeit notwendig ist oder nicht, spielten dabei offenbar keine Rolle. Diese dürften jedoch selbst wissen, inwiefern ihre Arbeit in der jetzigen Situation notwendig ist…” Artikel von Thomas Sablowski vom 23. März 2020 im Blog des Instituts für Gesellschaftsanalyse der RLS
am Beispiel Italien – siehe auch:
- Bleibende Lehren aus der Corona-Krise: Wer oder was ist systemrelevant?
“Auf einmal waren gar nicht, wie vor 12 Jahren, die großen Banken „systemrelevant“, sondern die vielen kleinen Leute, die in der Sondersituation der Pandemie als unentbehrliche Dienstkräfte entdeckt wurden: Krankenschwestern und Supermarktkassiererinnen, Müllmänner und Postboten bekamen das Etikett „systemrelevant“ angeheftet wie einen Orden, so als wäre das das denkbar größte Kompliment. Sie bekamen Applaus vom in Quarantäne verbannten Publikum; Politiker verstiegen sich zu der Idee einer ein paar Hunderter schweren Anerkennungsprämie für überlastete Pflegekräfte: ein Anfall von Dankbarkeit quer durch die von Infektionsgefahr und staatlicher Seuchenbekämpfung irritierte Gesellschaft. Von Dauer war der nicht. (…) Der Degradierung großer Teile des freizeitindustriellen Kulturlebens der Nation zum Echo seines Marktwerts steht – um auf den Anfang zurückzukommen – die Aufwertung weiter Bereiche der in der marktwirtschaftlichen Berufshierarchie weit unten angesiedelten Dienstleistungen zu Musterfällen sittlichen Heldentums gegenüber, das einen Orden für Systemrelevanz verdient. Das betrifft, da herrscht ein erstaunlicher Konsens, ganz disparate Jobs – wie schon erwähnt: Frauen im Krankenhaus, an der Schnittstelle zwischen gesundem Alltag und Hinfälligkeit, ebenso wie Frauen im Supermarkt, an der Schnittstelle zwischen Versorgungsgut und Tauschwert, der ganz andere Figuren bereichert; oder auch Feuerwehrleute und Abfallbeseitiger… Der gemeinsame Nenner, der diesen Heroen des Alltags seuchenbedingt hohe Anerkennung einbringt, besteht in Merkmalen, die, wenn sie zusammenkommen, für den bürgerlichen Kopf von Selbstlosigkeit und Anstand als einzig plausiblem Motiv für solche Tätigkeiten zeugen: auf unauffällige Weise unentbehrlich, durchs aktuelle Infektionsgeschehen gefährdet, äußerst mäßig bezahlt; also bestimmt nicht egoistisch, vielmehr irgendwie engagiert und tapfer, auf jeden Fall moralisch wertvoll. Entsprechendes gilt für die Mutterrolle, die in Zeiten der coronabedingten Schul- und Kitaschließungen eindeutig nicht mehr den Freuden eines erfüllten Familienlebens zuzuordnen ist, sondern zu den unbezahlten Mehrfachbelastungen zählt, die klaglos auszuhalten uneigennützige Tatkraft beweist und dementsprechend hohe Würdigung verdient. Von der können die verschiedenen systemrelevanten Minderheiten sich zwar nichts kaufen, weder buchstäblich noch im übertragenen Sinn…” Artikel in der Reihe “Was Deutschland bewegt” als Pandemie XII der Zeitschrift GegenStandpunkt 3–20 - Wer oder was ist systemrelevant? /Aus der Krise lernen, was für ein gutes Leben nötig ist
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- Wer oder was ist systemrelevant?
“… Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wurden immer wieder verschiedene Berufsgruppen hervorgehoben und ihre Systemrelevanz betont. Zunächst waren es die Pflegekräfte und Ärzte, dann die Kassiererinnen im Supermarkt, die Putzkräfte im Krankenhaus oder die LKW-Fahrer bei der Güterversorgung. Gelobt wurden die Gruppen – außer den Ärzten – auch deshalb, weil sie ihren Dienst am Funktionieren der Gesellschaft für wenig Geld erbringen. (…) Beim Lob der verschiedenen Berufsgruppen soll man sich offenbar vorstellen, dass diese Menschen ihren Dienst für die Gemeinschaft, für Deutschland oder für die Nation erbringen. Nur sind sie in der Regel nicht im Staatsdienst tätig oder gar dienstverpflichtet, sondern angestellt bei einem Supermarkt, Krankenhaus oder Pflegedienst, bei einer Reinigungsfirma oder Spedition. (…) Die Alltagshelden und ‑heldinnen erbringen ihren Dienst daher auch nicht aus lauter Selbstlosigkeit, sondern weil sie Geld verdienen müssen, um zu leben. Dieses Angewiesensein auf Geld für den Lebensunterhalt nutzen die Arbeitgeber aus, um für wenig Geld möglichst viel an Leistung einzufordern, deren Erbringung auch schon in Normalzeiten ein Härtetest ist – ein Tatbestand, der gegenwärtig gar nicht verschwiegen wird, vielmehr den Grund für das allgemeine Lob abgibt. Was hier als Heldentum gefeiert wird – dass Menschen bei sparsamstem Entgelt nützliche Dienste für die Gemeinschaft erbringen -, ist also nichts anderes als das Ergebnis eines Erpressungsverhältnisses. Für diese Tätigkeiten stehen – bis auf den Bereich der Pflege, bei der Idealismus gefordert wird – meist mehr Menschen zur Verfügung, als Arbeitsplätze angeboten werden, so dass es den Arbeitgebern leicht fällt, diese Arbeitsmarktlage für sich auszunutzen. Unterstützung fanden sie dafür bei den regierenden Parteien von grün bis christlich-sozial, die in Deutschland den Niedriglohnsektor durch die Sozialgesetze befördert haben. Deshalb ist es ein Zynismus, dass diese Politiker jetzt applaudieren und mehr Anerkennung für die betreffenden Berufstätigen fordern. (…) Wer allerdings auf die Dankbarkeit seines Arbeitgebers für treue Dienste setzt, darf sich darüber nicht wundern, stellt eine solche Haltung es doch ganz dem Dienstherren frei, wie er sich erkenntlich zeigt. Um auf Dauer zu einem besseren Einkommen für ihre Arbeit zu gelangen, müssen sich die Betroffenen schon etwas anderes einfallen lassen. Früher hieß das einmal Solidarität und war nicht – wie heute üblich – als gemeinsamer Verzicht in einer kritischen Situation gemeint, sondern als Zusammenschluss von Arbeitnehmern, die die Konkurrenz um Arbeit und Einkommen unter sich aufheben, um so wegen ihrer Nützlichkeit für die andere Seite ein Mehr für sich zu fordern und durchzusetzen. Ein Gedanke, der selbst bei den heutigen Gewerkschaften wenig verbreitet ist!” Beitrag von Suitbert Cechura vom 20. April 2020 bei Telepolis - Aus der Krise lernen, was für ein gutes Leben nötig ist
“Die Corona-Pandemie bietet die Chance, Aufwertung von Sorgearbeit neu zu diskutieren, meint Gabriele Winker (…) Im Netzwerk Care Revolution setzen wir uns dafür ein, dass für Sorgearbeit in Familien, in Krankenhäusern, Seniorenheimen, Kitas und Schulen mehr Zeit und Finanzen zur Verfügung gestellt werden. Wir treten für eine Gesellschaft ein, in der statt Kostensenkung und Profitmaximierung menschliche Bedürfnisse im Zentrum stehen, besonders die Sorge füreinander. (…) In der Corona-Pandemie erfahren wir alle, wie stark wir von der Arbeit von Pflegekräften und Ärzt*innen abhäng sind. Außerdem wäre das gesamte System der Kontakteinschränkung ohne Eltern gar nicht aufrechtzuerhalten. Die meisten Eltern realisieren momentan eine Ganztagsbetreuung ihrer Kinder und häufig dazu im Homeoffice die eigene Berufstätigkeit. Sie sollen dabei auch noch eine gute Lehrerin, Hauswirtschafterin und Trösterin sein. Das führt häufig zu Überforderung, zeigt uns aber gleichzeitig, wie wichtig Lehrer*innen und Erzieher*innen sind. (…) Wichtig wäre jetzt eine finanzielle Absicherung für alle. Das ließe sich mit der Einführung des von uns schon lange geforderten bedingungslosen Grundeinkommens erreichen und könnte zügig Wirkung zeigen. Ferner sollten wir uns jetzt darauf verständigen, die Vollzeit-Erwerbsarbeit auf maximal 30 Wochenstunden zu begrenzen. Nur mit einer solchen kurzen Vollzeit bleibt Zeit für familiäre Sorge und auch für Muße. So könnten auch alle, die gerade ihren Job verlieren, schneller und besser eine neue berufliche Aufgabe finden. Gleichzeitig ist dies aus ökologischen Gründen ein Gebot der Stunde. Wir wären durch ein insgesamt verringertes Erwerbsarbeitsvolumen gezwungen, eine gesellschaftliche Debatte über den Stellenwert einzelner Wirtschaftsbereiche zu führen: Welche wollen wir zügig abbauen und welche Care-Bereiche entsprechend ausbauen? Schon jetzt ist den meisten klar geworden, dass die öffentliche Daseinsvorsorge umfassend neu aufgestellt werden muss: In Zukunft sollen alle bedürftigen Menschen entsprechend ihren Wünschen Unterstützung erhalten, und zwar von Beschäftigten, die unter guten Arbeitsbedingungen tätig sein können. Das erfordert deutlich mehr Personal und auch erhöhte Gehälter für alle Care-Berufe, am besten über allgemeinverbindliche Tarifverträge…” Interview von Lea Schönborn vom 20.04.2020 im ND online
- Wer oder was ist systemrelevant?
- Welche Jobs Bullshit sind und welche systemrelevant: “Werden wir danach so tun, als sei alles nur ein Traum gewesen?”
“Welche Jobs Bullshit sind und welche systemrelevant: Das dürfen wir nach der Corona-Krise nicht vergessen”, fordert der Kapitalismuskritiker David Graeber im Interview von Lars Weisbrod vom 31. März 2020 in der Zeit online: “… Hier in Großbritannien hat die Regierung eine Liste zusammengestellt mit den systemrelevanten Berufen – wer in denen arbeitet, darf weiterhin seine Kinder in die Schule schicken, wo sie betreut werden. Die Liste besticht durch die erstaunliche Abwesenheit von Unternehmensberatern und Hedgefondsmanagern! Die, die am meisten verdienen, tauchen da nicht auf. Grundsätzlich gilt die Regel: Je nützlicher ein Job, desto schlechter ist er bezahlt. Eine Ausnahme sind natürlich Ärzte. Aber selbst da könnte man argumentieren: Was die Gesundheit angeht, trägt das Reinigungspersonal in Krankenhäusern genauso viel bei wie die Mediziner, ein Großteil der Fortschritte in den letzten 150 Jahren kommt durch eine bessere Hygiene. (…) Durch die aktuelle Krise wird jetzt noch deutlicher: Mein Lohn hängt überhaupt nicht davon ab, wie sehr mein Beruf tatsächlich gebraucht wird. (…) Darum ist es so wichtig, dass wir, was wir uns in Krisenzeiten endlich eingestehen, danach nicht wieder verdrängen – zum Beispiel, welche Jobs wirklich systemrelevant sind und welche nicht. (…) Wir organisieren unsere Wirtschaft ja gerade sowieso um, ob es uns jetzt gefällt oder nicht. So viele grundsätzliche Fragen wurden lange nicht gestellt, weil man sie gar nicht formulieren konnte in der Sprache der neoliberalen Ökonomen. (…) Außerdem steht uns die allergrößte Krise noch bevor, der Klimawandel. Wir standen die ganze Zeit auf den Gleisen und ein Zug kam uns direkt entgegen. Und jetzt hat uns jemand brutal von diesen Gleisen gestoßen, das tut weh und ist schrecklich. Aber das Dümmste, was wir tun könnten, wenn wir wieder auf die Beine kommen: Uns wieder zurück auf die Gleise stellen, wo der Zug auf uns zurast!”
- Siehe als Beispiel eine Liste aus Berlin
mit sytemrelevanten Berufen, die Anspruch auf Notbetreuung der Kinder haben.
Der Beitrag [Wichtige Debatte, wenn auch erst durch Corona] Was ist notwendige Arbeit? Und wer entscheidet darüber? erschien zuerst auf LabourNet Germany.