Strategische Partnerschaft
Verstärktes Interesse, die Zusammenarbeit mit Vietnam auszubauen, hat die Bundesrepublik seit annähernd zwei Jahrzehnten. Im Mai 2003 sowie im Oktober 2004 – gleich zweimal innerhalb von nur 18 Monaten – besuchte Bundeskanzler Gerhard Schröder das südostasiatische Land, um die politischen und vor allem die wirtschaftlichen Beziehungen zu intensivieren. Im Oktober 2011 traf Schröders Nachfolgerin Angela Merkel in Hanoi ein, um eine „strategische Partnerschaft“ mit Vietnam zu initiieren. Diese zielt insbesondere auf die Stärkung von Handel und Investitionen. Die Wirtschaftsbindungen haben sich seither in der Tat verdichtet. Lag Vietnam 2011 beim Handel der Bundesrepublik mit den zehn ASEAN-Staaten [1] noch in deren Mittelfeld, so hat es mittlerweile zur Spitzengruppe aufgeschlossen; es rangiert nach Malaysia (Handelsvolumen mit Deutschland 2019: 14,3 Milliarden Euro) und vor der Handelsdrehscheibe Singapur (13,1 Milliarden Euro) auf Rang 2 (14,0 Milliarden Euro). Allerdings haben deutsche Unternehmen in Vietnam trotz einer schnellen Steigerung von 435 Millionen Euro 2011 auf 966 Millionen Euro 2018 bislang erheblich weniger investiert als in anderen ASEAN-Ländern, so zum Beispiel in Thailand (4,3 Milliarden Euro), in Malaysia (6,4 Milliarden Euro) oder in Singapur (13,3 Milliarden Euro).
Ein neuer Niedriglohnstandort
Ursache für das – wenngleich noch mäßige – Wachstum der deutschen Investitionen in Vietnam ist insbesondere, dass die Löhne in China im vergangenen Jahrzehnt sukzessive stiegen und damit die Verlagerung der Produktion in Länder mit noch niedrigeren Einkommen für westliche Konzerne attraktiver wurde. Ein Beispiel ist die partielle Verlagerung der Schuh- und Textilindustrie. Stellte etwa Adidas im Jahr 2007 noch rund 50 Prozent all seiner Schuhe in China her, so fiel der Anteil auf 30 Prozent im Jahr 2012, 2017 dann auf 19 Prozent. Zugleich stieg der Anteil der Adidas-Schuhe, die in Vietnam produziert wurden, zunächst auf 31 Prozent im Jahr 2012 und 2017 dann auf 44 Prozent.[2] Hanoi ist es zudem gelungen, neben der Schuh- und Textilindustrie schrittweise auch Fabriken für komplexere Produkte ins Land zu holen, besonders Elektronik; damit soll es gelingen, nach und nach in die High-Tech-Produktion vorzudringen – ähnlich, wie es China bereits geschafft hat. Mit Blick auf die Entwicklung hat Berlin schon vor zehn Jahren hartnäckig darauf gedrungen, die EU müsse ein Freihandelsabkommen mit Hanoi schließen. Nach langwierigen Verhandlungen ist dies gelungen; seit dem 1. August 2020 ist das Abkommen in Kraft.
High-Tech, Forschung: „ausbaufähig“
Unter dem Druck des US-Wirtschaftskriegs gegen China haben manche Unternehmen, die ohnehin eine Verlagerung ihrer Niedriglohnfabriken aus der Volksrepublik nach Vietnam planten, dies zuletzt beschleunigt, um etwaigen Strafzöllen zu entkommen. Tatsächlich hat die Verlagerung, die auch die Bundesregierung im Rahmen ihrer „Indo-Pazifik-Leitlinien“ [3] fördert („Diversifizierung von Lieferketten“), jedoch Grenzen – in mehrfacher Hinsicht. China ist technologisch viel weiter fortgeschritten und verfügt über breit ausdifferenzierte, äußerst flexible High-Tech-Firmen, die in Verbindung mit den immer noch niedrigen Löhnen ein weltweit einzigartiges Umfeld bilden; damit kann Vietnam auch nicht annähernd mithalten.[4] Darüber hinaus ist trotz von Berlin systematisch geförderter Wissenschaftskooperation Vietnams Potenzial in Forschung und Entwicklung, wie es aus Wirtschaftskreisen heißt, noch „ausbaufähig“; Chinas Kapazitäten hingegen zählen auf einigen Feldern bereits zur Weltspitze. Dies hat zur Folge, dass zahlreiche deutsche Firmen – vor allem solche in High-Tech-Branchen – an ihrem Standort in China festhalten (german-foreign-policy.com berichtete [5]); von einer Massenflucht ausländischer Unternehmen aus der Volksrepublik, wie sie zuweilen medial heraufbeschworen wird [6], kann keine Rede sein.
Kriegsübungen gegen China
Außer ökonomischen verfolgt Berlin in Vietnam zentrale politische Interessen. Das Land begreift sich traditionell als südostasiatischen Gegenspieler Chinas und hat noch 1979 einen mehrwöchigen Landkrieg gegen den nördlichen Nachbarstaat geführt. Noch 1988 kam es zu einem chinesisch-vietnamesischen Seegefecht bei den Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer. Der Konflikt um diverse dortige Inseln, Sandbänke und Riffe dauert bis heute an. Dabei hat Hanoi laut Angaben der Asia Maritime Transparency Initiative am Washingtoner Center for Strategic and International Studies (CSIS) wohl rund 50 Außenposten im Südchinesischen Meer errichtet – fast doppelt so viel wie Beijing (27); einige davon nutzt es auch militärisch.[7] Die Vereinigten Staaten positionieren sich in dem Konflikt klar gegen Beijing, also auf Seiten Hanois – und sie haben, um den Druck auf China zu erhöhen, zuletzt ihre Militärpräsenz im Südchinesischen Meer sukzessive verstärkt. Seit Jahren sind sie zudem bemüht, gemeinsam mit Vietnam Manöver abzuhalten. Zuletzt nahm die vietnamesische Marine etwa am US-Pazifikmanöver RIMPAC 2018 und einer 2019 abgehaltenen gemeinsamen Übung der Vereinigten Staaten und der ASEAN-Länder teil.[8] Auch die Beteiligung an RIMPAC 2020 war – wie im Falle der Bundeswehr – ursprünglich vorgesehen, konnte jedoch pandemiebedingt nicht verwirklicht werden.
Gegengewicht gegen Beijing
Auch die Bundesregierung stützt Vietnam im Konflikt mit China im Südchinesischen Meer, setzt dabei bislang aber auf politisch-diplomatische Mittel – und bietet sich damit zunehmend als Alternative zu den Vereinigten Staaten an. Ursache ist, dass die ASEAN-Staaten ganz überwiegend bemüht sind, sich im Machtkampf zwischen den USA und China nicht auf eine Seite zu schlagen; wirtschaftlich sind sie längst auf die Kooperation mit der Volksrepublik angewiesen, wollen jedoch einen offenen Konflikt mit den Vereinigten Staaten unbedingt vermeiden – und ein Krieg in der Region wäre für sie fatal. Erst kürzlich forderte Malaysias Außenminister Hishammuddin Hussein, die ASEAN-Staaten sollten, „konfrontiert mit den großen Mächten, als Block geeint“ bleiben, um sich behaupten zu können.[9] Während Washington den Konflikt gegen ihren Willen eskaliert, bietet Berlin den ASEAN-Mitgliedern an, ihren Staatenbund zu fördern. So will es laut den „Indo-Pazifik-Leitlinien“ die Kooperation „mit ASEAN-Institutionen ausbauen und die Unterstützung des ASEAN-Sekretariats fortsetzen“, „die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit ASEAN … ausbauen“, „die Rolle der EU als Partner von ASEAN stärken“ und die Beziehungen „zeitnah“ zu einer „Strategischen Partnerschaft“ aufwerten.[10] Das Vorhaben zielt darauf ab, ASEAN auf lange Sicht zum regionalen Gegengewicht gegen China zu formen – in dichter Anbindung an die EU.
[1] ASEAN gehören Brunei Darussalam, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, die Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam an.
[2] Adidas Sees Ongoing Sourcing Shift from China to Vietnam. businessoffashion.com 09.05.2020.
[3] Leitlinien zum Indo-Pazifik. Berlin, August 2020. S. dazu Deutschland im Indo-Pazifik (I).
[4] Niharika Mandhana: Manufacturers Want to Quit China for Vietnam. They’re Finding It Impossible. wsj.com 21.08.2019.
[5] S. dazu Geschäft statt Entkopplung.
[6] Christoph Hein: Wem gehört die Welt nach Corona? Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.05.2020.
[7] Occupation and island building. amti.csis.org.
[8] Jesse Johnson: First U.S.-ASEAN joint maritime drills kick off as Washington beefs up presence in South China Sea. japantimes.co.jp 02.09.2019.
[9] Bhavan Jaipragas: South China Sea: avoid siding with US or China, Malaysia urges Asean. scmp.com 05.08.2020.
[10] Leitlinien zum Indo-Pazifik. Berlin, August 2020. S. dazu Deutschland im Indo-Pazifik (I).