Dossier
“… Mit der Einführung der Fallpauschalen, den sogenannten Diagnosis Related Groups (DRG), im Jahr 2004 wurde in der Bundesrepublik ein Paradigmenwechsel in der stationären Versorgung und damit einem Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge vollzogen. Ursprünglich zur Bekämpfung von tatsächlich oder vermeintlich bestehenden Fehlanreizen der Finanzierung über tagesgleiche Pflegesätze eingeführt, hat sich im Zuge der DRG-Einführung eine ökonomische Dynamik entfaltet, die alle Ebenen der stationären Versorgung gleichermaßen durchdringt: Krankenhäuser wurden zu Fabriken getrimmt, so dass ökonomische Interessen in inakzeptabler Weise mit medizinischen Entscheidungen verbunden wurden. Die betriebswirtschaftliche Ideologie bestimmt seitdem nicht nur das Leben und Arbeiten in den Kliniken egal welcher Trägerschaft. Sie ist auch zur zentralen Perspektive der Gesundheitspolitik geworden. Das hat unmittelbare Auswirkungen auf das öffentliche Gesundheitssystem, das als öffentliche, d. h. solidarische und demokratische Aufgabe in die Hand der Lohnabhängigen gehört, die es mit ihren Geldern in Form von Kassenbeiträgen und Steuern finanzieren…” Artikel von Thomas Kunkel, Vorstandsmitglied im Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte e. V., in der jungen Welt vom 9. Januar 2017
– bei dem Artikel handelt es sich um einen leicht gekürzten Vorabdruck aus den Marxistischen Blättern (Heft 1/2017). Siehe dazu:
- Corona-Resolution: Krankenhausbetreiber, zivilgesellschaftliche Initiativen und Gewerkschafter*innen fordern gemeinsam Abschaffung der Fallpauschalen und ein Ende der Profitlogik in den Krankenhäusern
“Wenige Tage vor der Gesundheitsminister*innenkonferenz am 30. September fordern Krankenhausbetreiber und gesundheitspolitische Akteure gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Organisationen die kostendeckende Finanzierung von Krankenhäusern und ein Ende der Profitmöglichkeiten für private Klinikbetreiber. (…) Die von dem Bündnis „Krankenhaus statt Fabrik“ initiierte Resolution wird unter anderem von der Gewerkschaft ver.di, dem Interessenverband kommunaler Kliniken (IVKK), der LINKEN, den Jusos, Attac Deutschland, lokalen Bürger*innenbündnissen für Gesundheit sowie Betriebs- und Personalräten und Mitarbeiter*innenvertretungen in den Krankenhäusern getragen. Gemeinsam fordern sie, dass an die Stelle des Fallpauschalensystems (DRG/Diagnosis Related Groups) die volle Finanzierung der wirtschaftlich notwendigen Betriebskosten der Krankenhäuser durch die Krankenkassen tritt. Die Bundesländer müssen ihren Investitionsverpflichtungen gerecht werden, die sie seit Jahren vernachlässigen. Der unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten betriebene Bettenabbau in den Krankenhäusern soll gestoppt werden, die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten müssen verbessert werden. Gewinnmitnahmen privater spezialisierter Kliniken sind insbesondere in der Corona-Krise zu verhindern…” Pressemitteilung von attac vom 28. September 2020 (noch nur per e‑mail) zur Corona-Resolution des Bündnisses “Krankenhaus statt Fabrik”: “Die Corona-Krise muss Konsequenzen haben”. Siehe dazu:
- »Das System der Fallpauschalen muss weg«. Die Coronapandemie zeigt, was Kritiker schon lange wussten: Die Versorgung in deutschen Krankenhäusern ist mangelhaft. Ein Gespräch mit Peter Hoffmann
“… Unter Coronabedingungen wurde deutlich, dass wir für die Krankenhäuser eine bedarfsgerechte Planung und keine chaotische Marktentwicklung brauchen. Zu Beginn der Pandemie war nicht mal bekannt, wie viele Intensivbetten es insgesamt in der Republik gibt. Hier braucht es Zusammenarbeit, keine Konkurrenz. Für Katastrophen- oder Pandemiefälle werden etwa sieben Milliarden Euro im Jahr als Vorhaltekosten für Kliniken benötigt, etwa für einen Vorrat an Schutzkleidung. Laut dem »Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus« bringen die zuständigen Bundesländer nicht mal die Hälfte davon auf. Ständig wird Geld aus Fallpauschalen für laufende Behandlungen veruntreut, etwa um in Neubauten, Umbauten oder technische Geräte zu investieren. Das Fallpauschalensystem muss weg, weil es Fehlanreize setzt. [Welche sind das zum Beispiel?] Mehr Operationen und Eingriffe werden vorgenommen, weil sie für das Krankenhaus finanziellen Gewinn bringen – selbst wenn diese zum Teil sogar unnötig sind. Was Defizite verursachen könnte, wird unterlassen oder reduziert. Deshalb ist mitunter die Versorgung bei Kinderkliniken oder Geburtsstationen nicht mehr gewährleistet. Alles ist ökonomisch gesteuert. Um Kosten gering zu halten, wurde in den vergangenen Jahren Personal in der Pflege abgebaut, so dass die verbliebenen Kräfte ständig überlastet sind. Die Arbeitsverhältnisse sind so unzumutbar geworden, dass viele den Beruf nicht mehr ergreifen oder darin nicht mehr verbleiben wollen…” Interview von Gitta Düperthal in der jungen Welt vom 26.09.2020mit Peter Hoffmann, Anästhesist und Vorstandsmitglied des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) in München
- Siehe zum aktuellen Hintergrund unser Dossier: Auch in Deutschland stehen dem Corona-Virus (politisch gewollt) knappe Ressourcen des Gesundheitswesens gegenüber
- »Das System der Fallpauschalen muss weg«. Die Coronapandemie zeigt, was Kritiker schon lange wussten: Die Versorgung in deutschen Krankenhäusern ist mangelhaft. Ein Gespräch mit Peter Hoffmann
- [Broschüre online] Das Fallpauschalensystem und die Ökonomisierung der Krankenhäuser – Kritik und Alternativen
“Nachdem die erste Broschüre des Bündnisses Krankenhaus statt Fabrik auch in der vierten Auflage vergriffen ist, veröffentlichen wir hier eine grundlegend überarbeitete Neuauflage, die unsere Kritik präzisiert und neueren politischen Entwicklungen Rechnung trägt. Die Broschüre kann als ganze oder in ausgewählten Kapiteln heruntergeladen werden…” Die Broschüre nun online bei Krankenhaus statt Fabrik - [Petition] Mensch vor Profit: Ökonomisierung an deutschen Krankenhäusern abschaffen! /Krankenhäuser vergesellschaften?
- [Petition] Mensch vor Profit: Ökonomisierung an deutschen Krankenhäusern abschaffen!
“Jeder wird irgendwann in seinem Leben Patient sein. Dann sind wir auf Ärzte angewiesen, die ihr medizinisches Können nicht hinter dem Gewinngedanken anstellen. Das passiert leider täglich an deutschen Kliniken. Leidtragende der Ökonomisierung an deutschen Krankenhäusern sind alle Patienten, an denen man nicht viel verdienen kann. Ich rufe alle Bürgerinnen und Bürger dazu auf, den im stern erschienenen Ärzte-Appell zu unterstützen, der für Furore sorgt. 36 ärztliche Organisationen und mehr als 1500 Ärzte haben ihn schon unterzeichnet. Er richtet sich „gegen das Diktat der Ökonomie an deutschen Krankenhäusern“ und geht uns alle an. (…) das Fallpauschalensystem, nach dem alle Krankenhausbehandlungen abgerechnet werden, belohnt jegliche Form von Aktionismus. Auch unnötige Operationen und Behandlungen. Das aber, was wir wirklich brauchen, bringt Kliniken kein Geld. (…) Ich fordere den Gesundheitsminister Jens Spahn auf, die drei zentralen Forderungen des Ärzte-Appells im stern zu erfüllen…” Petition von Ludwig Hammel bei change.organ Jens Spahn (Bundesminister für Gesundheit)
- Krankenhäuser vergesellschaften?
“Nach einigen Wochen Coronakrise und am Anfang der ersten Woche umfassender, landesweit geltender Einschränkungen vertieft sich die Diskussion darüber, welche Konsequenzen diese Krise langfristig haben muss. Dabei äußern sich viele speziell zur Situation im Gesundheitswesen, das ja in den vergangenen Jahren in der kritischen Öffentlichkeit wenig Aufmerksamkeit genossen hat. Das ist erfreulich, birgt aber auch manche Probleme, weil vieles an Wissen um jüngste Auseinandersetzungen und Kämpfe auf eine kleine Zahl von Akteuren begrenzt ist. Ich dokumentiere im Folgenden meine Beteiligung an einer Maildebatte, die am 24. März 2020 auf der Attac-Liste „gruppen-diskussion“ stattfand. Ein Teilnehmer hatte gefragt: „Wäre jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für eine Offensive in Richtung Enteignung von Krankenhauskonzernen und privaten Versicherungen, so sich zivilgesellschaftliche Organisationen darauf verständigen können? Also ähnlich wie die Berliner Volksinitiative bezogen auf Wohnraum, die Debatte auf das Gesundheitswesen ausweiten. Aus meiner Sicht sollte man jetzt mit der Forderung der (entschädigungslosen) Verstaatlichung mehr in die Öffentlichkeit gehen um die öffentliche Debatte über die Pandemie in diese Richtung zu lenken. So schlecht stehen die Chancen dafür nicht, gerade jetzt, wo selbst konservative Politiker das zumindest gedanklich durchspielen und auch nach außen posaunen? Wichtig wären natürlich Garantien, dass die Privaten später keinerlei Ansprüche erhalten auf Rückerstattungen.“ Meine erste, etwas schnelle Antwort war: Grundsätzlich stimme ich zu. Allerdings gibt es ein paar gute Gründe, warum wir (Attac AG soziale Sicherungssysteme, die an dem Thema ja seit inzwischen 19 Jahren arbeitet) das so nicht fordern. Erstens wäre es rechtlich nicht möglich, ohne Grundgesetzänderung entschädigungslos zu enteignen. Trotzdem könnte man es ja fordern. Zweitens trägt eine solche Forderung keine der Organisationen mit, die im Gesundheitsbereich unterwegs sind, insbesondere nicht die Gewerkschaften, die die Beschäftigten dort organisieren. Könnte man sagen, muss man eben dicke Bretter bohren. Drittens, und das ist der eigentlich allein wichtige Grund, geht das viel einfacher. Man muss nämlich verstehen, warum private Krankenhäuser überhaupt als Geschäftsmodelle funktionieren, also Gewinn machen können. Das liegt in Deutschland ganz zentral am Fallpauschalen-Abrechnungssystem (DRGs). Wenn die abgeschafft wären, wären Krankenhäuser für renditeorientierte Investoren völlig uninteressant. Bei der Einführung der DRGs ganz zu Beginn der 2000er-Jahre waren wir die einzigen, die das gesehen und kritisiert haben, jahrelang wollte unserer Forderung niemand folgen, aber seit einigen Jahren gibt es ein Bündnis, das genau daran arbeitet (Krankenhaus statt Fabrik https://www.krankenhaus-statt-fabrik.de/) und die Forderung nach Abschaffung der DRGs gehört zum Standard jeder fortschrittlichen Gesundheitspolitik in Deutschland. Vor allem die erfolgreiche, ebenfalls von uns initiierte Kampagne gegen die Einführung solcher Fallpauschalen in der Psychiatrie und Psychosomatik (“Weg mit PEPP”) hatte große Beachtung gefunden und das Bündnis stark beflügelt…” Debattenbeitrag vom 24.3.2020 von und bei Werner Rätz
- [Petition] Mensch vor Profit: Ökonomisierung an deutschen Krankenhäusern abschaffen!
- Gut vorbereitet? Was hat die aktuelle Corona-Virus-Pandemie mit der Finanzierung deutscher Krankenhäuser über Fallpauschalen zu tun?
“Die Aussage von Minister Spahn, unser Gesundheitssystem sei auf die neuen Herausforderungen gut vorbereitet, ist eine krasse Fehldiagnose. Auch wenn man Panikmache für vollkommen unangebracht ist, hält diese uneingeschränkte Einschätzung einem Faktencheck nicht stand (…) Die aktuelle Entscheidung des Gesundheitsministers, die gerade erst eingeführten und eigentlich viel zu niedrigen Pflegepersonaluntergrenzen anlässlich der Zusatzbelastung unseres Gesundheitssystems durch die Corona-Pandemie vorübergehend außer Kraft zu setzen, demonstriert diesen Widerspruch: Da wir in den Krankenhäusern zu wenig Fachpersonal haben, müssen Bettenkapazitäten gesperrt werden. Wenn die Patientenzahlen aber in einer Notsituation zusätzlich steigen, werden diese Missstände nicht nur wieder geduldet, sondern weiter verschärft, um noch mehr Patientinnen als bisher durch die Klinikbetten zu schleusen. Die Aussage von Minister Spahn, unser Gesundheitssystem sei auf die neuen Herausforderungen gut vorbereitet, ist also eine krasse Fehldiagnose. Wir vom Bündnis Krankenhaus statt Fabrik fordern daher, endlich unsere Krankenhäuser wieder funktionsfähig zu machen für eine Daseinsvorsorge ohne jede Einschränkung: Die Ausrichtung der stationären Versorgung auf betriebswirtschaftlichen Gewinn muss beendet werden. Krankenhäuser dürfen keine Gewinne machen, Verluste sind auszugleichen, wenn die Klinik für die Versorgung einer Region benötigt wird. Die Finanzierung darf nicht nur die medizinischen Leistungen im Normalbetrieb berücksichtigen, sondern muss auch alle Vorhaltekosten für außergewöhnliche Notfallsituationen sicherstellen. Die medizinische Behandlung im Krankenhaus ist Daseinsvorsorge. Daher müssen Krankenhäuser da demokratisch geplant und betrieben werden, wo sie für die qualitativ gleichwertige Versorgung gebraucht werden, nicht da wo der Träger mit ihnen Gewinne erwirtschaften kann. Die angemessene Personalausstattung im Krankenhaus ist eine elementare Voraussetzung für gute Behandlung der Patientinnen und keine Schönwettermaßnahme, die bei jedem drohenden Sturm wieder kassiert werden kann.” Presseerklärung des Bündnisses „Krankenhaus statt Fabrik“ vom 12.03.2020 - Der Ärzte-Appell: Medizin für Menschen. Gegen das Diktat der Ökonomie in unseren Krankenhäusern
“Viele Ärzte und Ärztinnen erleben im Krankenhaus unlösbare Konflikte. Sie sollen Patienten heilen – und mit ihnen Gewinne erzielen. Ein System, das krank macht. Im stern fordern sie: Rettet die Medizin!
Vor sechzehn Jahren gab es in Deutschland eine Revolution, deren Name keiner kennt. An unseren Krankenhäusern wurde ein völlig neues Abrechnungssystem eingeführt, die “Fallpauschalen”. Jeder bekommt sie zu spüren, der heute eine Klinik betritt. Wir tragen dort unsichtbare Preisschilder auf der Stirn. Die Verdachtsdiagnose entscheidet darüber, wie interessant wir für das Haus sind. Ob man uns besser aufnehmen oder wenn irgend möglich unter Vorwänden weiterschicken sollte. Eine Kopfwehattacke ist weniger wert als ein Magengeschwür. Dieses ist weniger wert als ein Herzinfarkt. Einen Beinbruch sollte man möglichst operieren – denn das Gipsen ist aus der Sicht vieler Krankenhausgeschäftsführer vergeudetete Zeit, in der ein Arzt mehr Umsatz machen könnte. Das große Los für die Klinik ist finanziell gesehen ein Krebspatient. Wie konnte es zu diesen Misständen kommen? Darüber sprach der stern mit mehr als 100 Medizinern aus ganz Deutschland – mit Assistenzärztinnen, Klinikdirektoren, Präsidentinnen von Fachgesellschaften und von Ärztekammern, mit Medizinethikern. Viele erleben dramatische Missstände, sieben Augenzeugenberichte sind heute in der Print-Ausgabe des stern zu lesen, einer davon hier. Fast alle Ärztinnen und Ärzte nannten zwei Ursachen für die Misere: Extremen ökonomischen Druck und das “Fallpauschalen-System”, für das Diagnosen in “Fallgruppen” gruppiert und pauschal vergütet werden – nach der Faustregel: Je höher der Aufwand, desto mehr Geld. (…) Das Fallpauschalensystem, nach dem Diagnose und Therapie von Krankheiten bezahlt werden, bietet viele Anreize, um mit überflüssigem Aktionismus Rendite zum Schaden von Patientinnen und Patienten zu erwirtschaften. Es belohnt alle Eingriffe, bei denen viel Technik über berechenbar kurze Zeiträume zum Einsatz kommt – Herzkatheter-Untersuchungen, Rückenoperationen, invasive Beatmungen auf Intensivstationen und vieles mehr. Es bestraft den sparsamen Einsatz von invasiven Maßnahmen. Es bestraft Ärztinnen und Ärzte, die abwarten, beobachten und nachdenken, bevor sie handeln. Es bestraft auch Krankenhäuser. Je fleißiger sie am Patienten sparen, desto stärker sinkt die künftige Fallpauschale für vergleichbare Fälle. Ein Teufelskreis. So kann gute Medizin nicht funktionieren. (…) Das Diktat der Ökonomie hat zu einer Enthumanisierung der Medizin an unseren Krankenhäusern wesentlich beigetragen. Unsere Forderungen: 1. Das Fallpauschalensystem muss ersetzt oder zumindest grundlegend reformiert werden. 2. Die ökonomisch gesteuerte gefährliche Übertherapie sowie Unterversorgung von Patienten müssen gestoppt werden. Dabei bekennen wir uns zur Notwendigkeit wirtschaftlichen Handelns. 3. Der Staat muss Krankenhäuser dort planen und gut ausstatten, wo sie wirklich nötig sind. Das erfordert einen Masterplan und den Mut, mancherorts zwei oder drei Kliniken zu größeren, leistungsfähigeren und personell besser ausgestatteten Zentren zusammenzuführen…” Ärzte-Appell am 05. September 2019 beim Stern online
, Unterschriften werden weiterhin gesammelt
- Das Gesundheitstribunal. Fallpauschalen im Interesse der Patienten oder der pauschale Fall Profit aus Krankheit
“„Ich bin seit der Ausbildung vier Jahre im Beruf. Im Moment bin ich auf einer Station, wo die Patienten ihre Krebs-Diagnose bekommen und dann auch Betreuung brauchen. Aber das können wir bei unserer Personalsituation nicht genug leisten. […] Wenn ich in England bin und erzähle, dass ich eine nurse bin, dann sagen immer alle: ´Wow, krass, toll!´ Und hier kommt immer: ´Echt? Das tust du dir an?´“ Dies sind Aussagen einer Krankenpflegerin, die im neuen Theaterstück von Volker Lösch (als Regisseur und Koautor) und Ulf Schmidt (als Autor) selbst auf der Bühne steht. In einem Kreis mit fünf anderen männlichen und weiblichen Pflegekräften. Zusammen mit fünf Profischauspielern. Bereits dieses Zusammenspiel macht das „Gesundheitstribunal“ zu etwas Besonderem. Ein Zusammenspiel von Schauspielern, die leidenschaftlich agieren, und Beschäftigten, die vom eigenen Leiden und dem Leiden der ihnen Anvertrauten authentisch berichten. (…) Wie angesprochen, ist man geneigt, die Misere des deutschen Gesundheitssystems als Resultat der allgemeinen neoliberalen Durchdringung der Gesellschaft, als weltweites Phänomen oder zumindest als eine überall in Westeuropa zu konstatierende Entwicklung zu verstehen. Schließlich gibt es EU-weit prekäre Beschäftigungsverhältnisse wie hierzulande und Jobstrukturen wie Hartz IV. Überall in Europa werden die Bahnen privatisiert. Überall wird das Studium an den Bedürfnissen des Kapitals ausgerichtet. Und just so wird es eben auch im Gesundheitssektor sein. Wäre es so, machte ein Gesundheitstribunal natürlich auch Sinn. Und natürlich wäre es auch dann sinnvoll, sich mit Appellen, Demos und Streiks gegen dieses krankmachende Gesundheitssystem zu stemmen. Verblüffend ist jedoch: Deutschland ist „Negativ-Avantgarde“ in diesem Prozess der Zerstörung. (…) Da bleibt zu hoffen, dass man bei verdi entdeckt, welch einen bislang noch verborgenen Goldschatz Volker Lösch, Ulf Schmidt und das Team des Gesundheitstribunal ihnen geliefert haben: Das Stück sollte bundesweit auf Tournee gehen. Und an vielen Orten – beispielsweise solchen mit großen Profitcenter-Kliniken – zur Aufführung gelangen. Auch hier jeweils unter Einbeziehung von Pflegekräften von vor Ort.” Artikel von Urs-Bonifaz Kohler vom 23. Januar 2019 bei lunapark21
- [ArbeiterInnenmacht] Privatisierungen rückgängig machen und weg mit dem Fallpauschalen-System!
“… Noch in den 1970igern bis Anfang der 1980iger Jahre befanden sie sich zum größten Teil in kommunaler Hand. Sie hatten damit auch den Auftrag, die Bevölkerung – egal ob reich oder arm, jung oder alt, ob in Land oder Stadt, chronisch krank oder nicht, die Behandlung teuer ist oder nicht – gleichwertig zu behandeln. Von 1972 bis 1985 galt das vollständige Selbstkostendeckungsprinzip, nach dem die Krankenhäuser ihre Behandlungskosten vollständig von den Krankenkassen refinanziert bekamen. Sie durften keinen Gewinn machen, standen noch nicht in unmittelbarer Konkurrenz zueinander, wie das heute der Fall ist, denn unter den DRGs machen einige Gewinne, andere Verluste. Der Einstieg in die Verschlechterung und schließlich das Auslösen einer massiven Privatisierungswelle erfolgte über die Finanzierungskrise der Sozialsysteme. Ab den 1970er Jahren setzte die Dauerwirtschaftskrise Staatsfinanzen und Sozialversicherungen unter Druck. (…) Dieses System der Fallpauschalen hatte Auswirkungen auf zwei Ebenen: Kommunale Krankenhäuser konkurrieren nun mit den privaten um möglichst viele „profitable Fälle“, denn nur diese gewährleisten Kostendeckung bzw. sogar Gewinne (das sind vor allem planbare chirurgische Eingriffe ohne großes Risikopotential). Ansonsten droht Insolvenz. Zwar steht im Hintergrund noch der gesetzliche Auftrag der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Dieser wird aber praktisch nicht mehr eingehalten, denn dadurch können Krankenhäuser nicht mehr rentabel arbeiten. (Sehr deutlich bei der Geburtshilfe, in den Kinderkliniken und internistischen Abteilungen.) Droht die Insolvenz, stehen die privaten Konzerne zur Übernahme parat – mit allen Verschlechterungen …“ Gegenwehr! Betriebs- und Gewerkschaftsinfo der Gruppe ArbeiterInnenmacht vom Oktober 2018 - Krankenhaus statt Fabrik: Fakten und Argumente zum DRG-System und gegen die Kommerzialisierung der Krankenhäuser
“Die deutsche Krankenhauslandschaft wurde in den letzten 20 Jahren zu einem Sektor des Gesundheitsmarktes umgebaut. Die Abschaffung des Selbstkostendeckungsprinzips und die Einführung des Fallpauschalensystems (DRG) ab 2003/04 haben die Krankenhausfinanzierung tiefgreifend verändert. Krankenhäuser werden nicht mehr nach ihrem Bedarf finanziert, sondern durch marktförmige Steuerung auf der Basis eines Festpreissystems. Dafür wurde die kostendeckende Finanzierung über Jahrzehnte ideologisch und politisch delegitimiert. Neoliberale Politik hatte eine simple Antwort auf die medizinisch/pflegerischen und politischen Probleme, die das System der Selbstkostendeckung in seiner konkreten Ausgestaltung hatte: »Mehr ökonomischer Wettbewerb, mehr Markt!« Versprochen wurde in diesem Zusammenhang auch eine Senkung der Krankenhausausgaben. Mehr als 20 Jahre nach der Weichenstellung für die Wettbewerbsorientierung und mehr als zehn Jahre nach Einführung der DRGs sind die Auswirkungen dieser politischen Entscheidungen deutlich sichtbar. (…) Die Kritik an den Auswirkungen der marktförmigen Steuerung ist bei allen Akteuren des Gesundheitswesens und in der Öffentlichkeit präsent. Auch die Kritik am System selbst nimmt zu. Bei den politischen EntscheidungsträgerInnen herrschen aber ungebrochen marktradikale Orientierungen vor, sie singen weiter das Hohelied von Markt und Wettbewerb. Dies wurde auch im 2015 verabschiedeten Krankenhausstrukturgesetz (KHSG) deutlich: Die Antwort auf die wesentlich durch den Wettbewerb produzierten Probleme lautet: Noch mehr Wettbewerb! (…) Die Ökonomisierung der Krankenhäuser kann nicht innerhalb des DRG-Systems zurückgedrängt werden. Innerhalb des krankenhauspolitischen Feldes ist Kritik am DRG-System zwar noch leise. (…) Ein erster Schritt ist eine Aufklärungskampagne, mit der wir über die politische, ökonomische, medizinische und pflegerische Funktion der Fallpauschalen und die Bedeutung von Markt und Wettbewerb für die Kommerzialisierung des Gesundheitssystems informieren. Diese Broschüre soll ein Teil dieses Vorhabens sein.” Aus der Einleitung zur Broschüre vom und beim Bündnis Krankenhaus statt Fabrik. Siehe dazu auch:
- Krankenhaus: »Es geht um Gewinne«
“Manfred Fiedler war Gewerkschaftssekretär der ver.di-Vorläuferorganisation ötv und später Arbeitsdirektor am Klinikum Dortmund. Heute arbeitet er als freiberuflicher Berater und Publizist im Gesundheitswesen. Er ist beim globalisierungskritischen Netzwerk Attac aktiv und hat an der Broschüre »Krankenhaus statt Fabrik« mitgearbeitet…” Daniel Behruzi im Gespräch mit Manfred Fiedler bei ver.di Gesundheit & Soziales(ohne Datum). Manfred Fiedler: “Das ab 2003 geschaffene Finanzierungssystem über Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) hat marktwirtschaftliche Mechanismen im Krankenhauswesen etabliert. Es geht darum, Gewinne zu erzielen. Dies geschieht, indem weniger und billigeres Personal mehr Patientinnen und Patienten versorgt. Das gilt sowohl für Pflegekräfte als auch für Beschäftigte in Wäscherei, Reinigung, Sterilisation und anderen Servicebereichen. Profitorientierte, private Krankenhäuser sind beim pflegerischen und medizinisch-technischen Personal pro Fall deutlich schlechter besetzt als andere. Und sie bezahlen ihren Beschäftigten im Durchschnitt 10 bis 15 Prozent weniger als öffentliche Träger. (…) Der Wettbewerb mit den Privaten setzt öffentliche und freigemeinnützige Krankenhäuser unter Druck, sich an die profitorientierten Strukturen anzupassen. Auch sie versuchen, mehr Leistungen mit dem gleichen oder sogar weniger Personal zu erbringen. Sie müssen das tun, um wirtschaftlich zu überleben und nicht vom Markt zu verschwinden. Zugleich ziehen private Konzerne viel Geld aus dem System. Sie fordern von ihren Häusern Umsatzrenditen von sechs bis 14 Prozent. Geld, das für eine gute Gesundheitsversorgung gedacht ist, landet in den Taschen von Aktionären. Die privaten Klinken sind für zwei Drittel der Ausgabensteigerungen seit Einführung des DRG-Systems verantwortlich, obwohl sie nur 16 Prozent der Patientinnen und Patienten behandeln…” Siehe dazu:
- Das Bündnis »Krankenhaus statt Fabrik« will über Ursachen und Auswirkungen der Kommerzialisierung aufklären. Einen sehr gehaltvollen Beitrag dazu leistet es mit einer Broschüre, die »Fakten und Argumente« zum System der Fallpauschalen
zusammenträgt. Die Texte sind hoch informativ, aber dennoch gut lesbar. Es wird deutlich, dass die Personalnot in den Kliniken kein Zufall, sondern Folge politischer Entscheidungen ist. Das heißt auch: Die Rahmenbedingungen können wieder verändert werden – wenn der Druck groß genug ist…
- Für weitere Informationen siehe die Website des Bündnisses Krankenhaus statt Fabrik
- Krankenhaus: »Es geht um Gewinne«
Siehe schon früher im LabourNet Germany:
- 15. Januar 2016: Personalnot im Gesundheits- und Pflegebereich: Der Krankenhaussektor
- 13. Januar 2016: Kritik an Klinikreform – Gesetzentwurf zur Krankenhausfinanzierung (Krankenhausstrukturgesetz)
- 17. Juni 2015: Aufruf zur Kampagne: Schluss mit der Kommerzialisierung des Gesundheitswesens!
- 27. November 2014: Schluss mit der Kommerzialisierung. Einladung zur Mitarbeit an einer Kampagne gegen die DRGs
- 24. September 2014: Kranker Wettbewerb – Frankfurt am Main: Ver.di und Linkspartei diskutieren Alternativen zur Krankenhausfinanzierung über Fallpauschalen
- 9. September 2014: Studie zur Personalbemessung und -finanzierung in der Krankenhauspflege
- 1. Juli 2014: Klinik kein Profitcenter
- 26. Februar 2013: Fabrik Krankenhaus – Peter Hoffmann über ein System verkehrter ökonomischer Anreize
- 11. Dezember 2012: Gesundheitswesen: Mit Kranken lassen sich satte Gewinne machen
Der Beitrag [DRG] Das Krankenhaus als Fabrik: Die Einführung der Fallpauschalen ermöglichte den Zugriff des Kapitals auf die Kliniken – mit gravierenden Folgen für Personal und Patienten erschien zuerst auf LabourNet Germany.