Einleitung
Im Jahr 2020 kam es zu einer Konvergenz großer Krisen, wobei die Covid-19-Pandemie, die zunächst ihren Höhepunkt im zweiten Quartal zu haben schien, nun wieder ein beispielloses Infektionsniveau erreicht.
Die kombinierten Auswirkungen dieser Krisen machen weiterhin deutlich, wie stark die Lohnabhängigen und Armen ‒ in besonderem Maße Frauen, Schwarze und ethnische Minderheiten sowie die Landbevölkerung ‒ unter all diesen Krisen leiden.
Hinzu kommen die extremen Auswirkungen der Klimakrise: Waldbrände in Kalifornien und Brasilien, weit verbreitete Überschwemmungen in Asien; weiterhin erleben wir eine verstärkte neoliberale Offensive, in der kapitalistische Regierungen versuchen, die Verluste aus der Zeit der Lockdowns wettzumachen; sodann das Wiederaufflammen lokaler Konflikte wie im östlichen Mittelmeerraum vor dem Hintergrund eines fortgeführten Kampfs um geopolitische Hegemonie. Gleichzeitig spielt die Ungewissheit über den Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen eine gewisse Rolle in der internationalen Lage. Es ist noch zu früh, um bestimmen zu können, wie die Welt am Ende des Jahres 2020 aussehen wird und inwieweit sie sich tiefgreifend verändert haben wird.
Die
kombinierten Auswirkungen dieser Krisen machen weiterhin deutlich, wie stark die
Lohnabhängigen und Armen ‒ in besonderem Maße Frauen, Schwarze und ethnische
Minderheiten sowie die Landbevölkerung ‒ unter all diesen Krisen leiden. Vermehrte
Todesfälle und der Verlust an Arbeitsplätzen, Lebensgrundlagen, Bildung und
Wohnraum haben eine weltweit zunehmende Verarmung und Enteignung einer breiten Schicht
zur Folge. Es haben sich Kämpfe und Bewegungen entwickelt, die sich gegen autoritäre
Regierungen stellen und die sich um die Gesundheit ihrer Bevölkerung sorgen.
Diese Bewegungen stellen nicht zuletzt die unsicheren Bedingungen einer Politik
der „Rückkehr an den Arbeitsplatz“ infrage, deren ausschließliches Ziel es ist,
der kapitalistischen Wirtschaft nützen, und sie betonen den besonderen Platz
von Frauen und ethnischen Minderheiten bei den lebenswichtigen Arbeitsplätzen.
Diese Bewegungen traten spektakulär hervor, als Black Lives Matter in den USA sowohl gegen Rassismus als auch
Polizeigewalt anging. Nicht nur breitete sie sich als Solidaritätsbewegung
rasch auf der ganzen Welt aus, sie kämpfte auch gegen die jeweiligen lokalen Ausdrucksformen
von Rassismus und Polizeigewalt.
Anhaltende Pandemie
Anfang
Juni, fünf Monate nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie, hatte sie weltweit bereits
mehr als 400 000 Todesfälle verursacht, mit mehr als 6,8 Millionen
offiziell registrierten Fällen in 216 Ländern ‒ mehr als 3 Milliarden Menschen
waren um April herum zu Hause eingesperrt.
Als
sich die Pandemie dann in Europa zurückzubilden begann, nachdem sie in China
und in Ostasien zu Beginn des Frühjahrs zurückgegangen war ‒ in Nord- und
Südamerika aber besonders akut blieb ‒, stellte sich die Frage, inwieweit es
eine zweite, galoppierende Infektionswelle geben würde oder ob das Virus zu
einer gutartigen Form mutieren würde. Es herrschte weiterhin hochgradig Unsicherheit.
Mitte
Oktober 2020 lag die Gesamtzahl der Todesfälle weltweit bei 1,2 Millionen und
die Zahl der bestätigten Infektionen stieg auf über 40 Millionen. Die USA,
Indien und Brasilien führen weiterhin die Liste der Todesfälle und Infektionen
an, aber die Infektionsrate steigt überall, besonders stark in Europa, wo das
Vereinigte Königreich mehr als 43 Tausend Todesfälle und Frankreich und der Spanische
Staat jeweils mehr als 33 Tausend registrierten.
In
vielen Ländern wird die Zahl der Infizierten, Kranken oder Verstorbenen
notorisch unterschätzt, zum einen wegen des politischen Willens bestimmter
Führer, den Ernst der Lage zu leugnen, und zum anderen wegen des Mangels an Test-Kits,
fehlender Einweisungen ins Krankenhaus und des Mankos, die Zählungen zu
zentralisieren.
Angesichts
der Gesundheitskatastrophe des globalisierten Neoliberalismus versuchten viele
Regierungen unter dem Druck der Ärzteschaft und der öffentlichen Meinung, die
Kontrolle wiederzuerlangen, indem sie energische Maßnahmen ergriffen. Das
Ergebnis war eine deutliche Eindämmung der Epidemie ‒ zu Beginn des Frühjahrs
in China und in Fernost, im Spätfrühjahr in Europa und Neuengland ‒, was in
Gesellschaften, die durch die Wucht der Krankheit und die ergriffenen
staatlichen Maßnahmen traumatisiert waren, zu einer mehr oder weniger weitgehenden
Lockerung des Lockdowns unter Beibehaltung gewisser Schutzmaßnahmen führte. In
den meisten Ländern Nord- und Südamerikas, in Indien und anderen Ländern Asiens
und Afrikas entwickelte sich die Pandemie weiterhin langsam fort, mit sehr
uneinheitlichen Schutzmaßnahmen. In einigen Ländern wie Argentinien oder den
Philippinen herrscht seit März ein ununterbrochener Lockdown!
Mit
Herbstanfang auf der Nordhalbkugel zeichnet sich in Europa und im Nahen Osten
eine große zweite Infektionswelle ab, mit neuen Beschränkungen, von
verlängerten Quarantänezeiten für Reisende bis hin zur Wiedereinführung
repressiv durchgesetzter Schließungen und Ausgangssperren (oft regional
differenziert) in einer Reihe von europäischen Ländern.
Wirtschaftskrise
Die Folgen der Verlangsamung der Wirtschaft ‒ die direkt und indirekt durch Maßnahmen der Freiheitseinschränkung (ohne oder mit völlig unzureichenden finanziellen Ausgleichsmaßnahmen) verursacht wurde und die vor dem Hintergrund einer bereits seit langem sich anbahnenden Finanzkrise entwickelt ‒ zeichnen sich inzwischen deutlicher ab: ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um durchschnittlich 10 % in den OECD-Ländern (Europa, Nordamerika, Japan, Südkorea, Australien …) im zweiten Quartal 2020 (zum Vergleich: während der vorangegangenen Finanzkrise 2009 ging das BIP um 2,3 % zurück); ein Rückgang um 25 % in Indien, 20 % in Großbritannien, 17 % in Mexiko, 14 % in Frankreich, 9,5 % in den USA, 7,8 % in Japan.
Neunzehn Länder des Südens haben ihre Zahlungen bereits ausgesetzt und in 28 Ländern herrscht zurzeit ein hohes Überschuldungsrisiko.
Der Produktionsrückgang betrug bereits im ersten Quartal 2 bis 3 %. Die chinesische Führung verkündet jedoch, dass die Erholung in China bereits im 2. Quartal stattgefunden habe: +3,2 % (gegenüber –7 % im ersten Quartal). Auf jeden Fall wird das Welt-BIP nach den derzeitigen Prognosen im Jahr 2020 um etwa 6 % zurückgehen und nicht vor 2023 wieder das Vorkrisenniveau erreichen ‒ ohne damit eine weitere mögliche Verschärfung der Pandemiesituation in Rechnung zu stellen.
Im
März gab es in China Dutzende Millionen Arbeitslose, im April 2020 bis zu 22
Millionen Arbeitslose in den USA ‒ und obwohl angekündigt wurde, dass diese
Zahlen in den folgenden Monaten stark zurückgehen würden, scheint es, dass die
neu geschaffenen Arbeitsplätze viel prekärer und gegenüber der Zeit vor der
Krise vermehrt Teilzeitarbeitsplätze sind. In den USA wird die Zahl der derzeit
Beschäftigten auf 11,5 Millionen weniger als im Februar geschätzt. In der
Europäischen Union ist die Zahl der Arbeitslosen auf 7,8 % gestiegen, mit
großen Unterschieden zwischen dem Norden und dem Süden!
In
einer wachsenden Zahl von Ländern des Südens, deren strukturelle
Schwierigkeiten sich mit der Covid-19-Krise verschärfen, bahnt sich eine neue
Schuldenfalle an: eine Verringerung der Devisenreserven, eine starke
Verschlechterung der Handelsbedingungen durch den Rückgang der Rohstoffpreise,
begleitet von einer Abwertung der Währungen dieser Länder gegenüber dem
US-Dollar. Neunzehn Länder des Südens haben ihre Zahlungen bereits ausgesetzt
und in 28 Ländern herrscht zurzeit ein hohes Überschuldungsrisiko. Die
G20-Länder, der IWF und die Weltbank unterstützen unermüdlich die Gläubiger und
verschärfen ‒ mittels Notfinanzierungen, die hauptsächlich in Form von Krediten
gewährt werden ‒ die Verschuldung der Länder des Südens, während sie
gleichzeitig die Anwendung neoliberaler Sparpolitik vorantreiben. Die
Rückzahlungen werden in den kommenden Jahren höher ausfallen und die Arbeiter*innen
und die sonstige arbeitende Bevölkerung noch mehr belasten. Die Vierte
Internationale unterstützt die verschiedenen Mobilisierungen von Bewegungen,
die auf internationaler Ebene für die Abschaffung der illegitimen Schulden
kämpfen.
Schäden durch die Offensive der
Bourgeoisien und ihrer Regierungen
Kapitalist*innen
und ihre Regierungen drängen darauf, dass die abhängig Beschäftigten an die
Arbeit zurückkehren und dass die Bevölkerung konsumiert, was immer die Folgen
für die Gesundheit und die öffentlichen Finanzen sind. Auf der anderen Seite
versuchen sie, im Namen des Kampfes gegen die Pandemie ‒ mehr oder weniger
extrem ‒ andere Freiheiten einzuschränken: sich zu bewegen, sich zu treffen
oder zu feiern, um Kosten für Tests, Nachverfolgung, Isolierung und
Unterstützungsleistungen zu vermeiden.
* Massive
Hilfsprogramme für Unternehmen (oft unabhängig von ihrer tatsächlichen
Krise) werden in Kraft gesetzt, einschließlich Kurzarbeit und Steuersenkungen
für eine nachhaltige Produktion, von China bis zu den USA und den verschiedenen
europäischen Ländern.
Auf
ihrer Ebene hat die Europäische Union ein europäisches Konjunkturprogramm in
Höhe von 750 Milliarden Euro über 3 Jahre proklamiert, etwas mehr als die
Hälfte davon in Form gemeinschaftlich zu tragender Schulden ‒ und im Gegenzug Kontrolle
der jeweiligen nationalen Politik ihrer Mitgliedstaaten in den nächsten Jahren
(dies ist teilweise ein Propagandaeffekt, da es in Wirklichkeit gerade mal 1 %
der öffentlichen Ausgaben ausmacht).
* Die
öffentlichen Dienste stehen unter immer größerem Druck; es gibt keine
massiven Investitionen in das öffentliche Gesundheitswesen, in die
Bildungsfürsorge für ältere Menschen und Kinder und in die Unterstützung für
Behinderte oder in andere Sektoren, die durch die Gesundheitskrise in sehr
große Schwierigkeiten geraten sind! Vielmehr erleben wir ein weiteres
Eindringen von Privatkapital in Sektoren, die zumindest in Europa bislang als
Teil des Öffentlichen Sektors betrieben wurden.
* Gleichzeitig wird eine zunehmend autoritäre Politik
umgesetzt. Nach dem Kampf gegen den Terrorismus ist es der Kampf gegen die
Pandemie, der zur Rechtfertigung freiheitsraubender Maßnahmen herangezogen
wird: Überall Polizei; Strafzahlungen für diejenigen, die Quarantänen oder das
Tragen von Masken nicht einhalten ‒ nachdem man deren Wirksamkeit mal gelobt,
mal geleugnet hatte; Abriegelungen und Ausgangssperren, die das
gesellschaftliche Leben verbieten.
Diese
Politik geht einher mit der Stigmatisierung der Jugend und der breiten
Bevölkerung, insbesondere rassistisch unterdrückter Menschen ‒ ob aus
alteingesessenen Gemeinschaften oder aus neueren Zuwanderungen ‒, die als
gedankenlos und unverantwortlich dargestellt werden, als wollten sie sich nicht
schützen.
* Überall wird das Arbeitsrecht unterminiert,
die Flexibilität, die ursprünglich im Namen einer wirtschaftlichen
Ausnahmesituation durchgesetzt wurde, wird aufrechterhalten, und
Unternehmensschließungen werden erleichtert;
* Die Gewerkschafts‑, Vereinigungs- und
Demonstrationsrechte wurden während der Lockdowns stranguliert und
bleiben eingeschränkt; oft unterliegen sie Regelungen, die einem
Ausnahmezustand nahekommen;
* Gleichzeitig erleben wir harte Maßnahmen
gegen Migrant*innen, insbesondere an der Südgrenze der USA oder am Mittelmeer.
Aber
die Erschütterungen dieser multidimensionalen Krise tragen auch zu einem verschärften
Konkurrenzkampf zwischen den Großmächten und zwischen anderen Ländern
bei: zwischen den USA und China, zwischen den USA von Trump und dem Rest der
Welt, angefangen beim Iran; mit Putins Russland; zwischen Erdogans Türkei und
seinen Nachbarn, zum Beispiel der Streit mit Griechenland, der sich zusehends
zuspitzt, während europäische Mächte wie Frankreich unter Macron den Konflikt
anheizen. Das korrupte aserbaidschanische Regime, das die finanziellen Mittel
zur Aufrechterhaltung seiner Willkürherrschaft verlor, startete mit
Unterstützung der türkischen Luftwaffe und syrischer Söldner eine Offensive
gegen die Armenier in Karabach. Es versucht, die Unterstützung durch die eigene
Bevölkerung zurückzuerlangen und jede Möglichkeit eines demokratischen
Prozesses hinauszuzögern.
Was
schließlich die Umweltkrise
betrifft, so mag sich der Rückgang der Weltproduktion im Frühjahr zwar
kurzzeitig positiv auf den Grad der weitergehenden Umweltverschmutzung und den
Treibhauseffekt des Klimas ausgewirkt haben, doch die Tendenz zur Zunahme der
Umweltschäden ist nach wie vor stark ausgeprägt: Die Großbrände des Jahres 2020
in Australien, Brasilien, im gesamten Amazonasgebiet und in den USA sind sowohl
das Ergebnis zunehmender Dürren, die durch den Klimawandel und die neoliberale
Landbewirtschaftung verursacht werden, als auch bisweilen ausgemachter
Brandrodungen.
Gesundheitliche
und soziale Auswirkungen
In Bezug auf die Politik des Coronavirus-Screenings und die Art der Tests, die Schutzmaßnahmen (Masken, Zugangsbeschränkungen, Quarantänen …), die Krankenhausversorgung und ‑ausstattung oder etwa die Impfstoffforschung: Es gibt eine Unmenge Konkurrenz und neoliberale Misswirtschaft sowie bürokratische Ineffizienz, verbunden mit dem Risiko neuer traumatischer Abriegelungen und neuer Krankenhauskrisen, die außer Kontrolle geraten, während das Gesundheitspersonal erschöpft und oft in besonderem Maß vom Coronavirus betroffen ist.
Diese Politik neuer sozialer Sicherheitsnetze ist jedoch konjunkturell bedingt und eindeutig nicht Ausdruck eines neokeynesianischen Wendepunkts bedeutender Sektoren der Bourgeoisie.
So
haben wir erlebt, dass reiche Länder (angefangen bei den USA), die Epidemie
viel weniger wirksam bekämpft haben als einige Länder, die als arm gelten
(Vietnam, Kuba …), die aber eine Tradition gemeinschaftlicher
Gesundheitsversorgung haben.
Wir
haben in der Pandemie auch starke soziale und rassistisch motivierte sowie
alters- und geschlechtsspezifische Ungleichbehandlungen gesehen! Beschäftigte für
die Grundversorgung im Gesundheits‑, Reinigungs- und Transportsektor, die oft Frauen
und/oder durch Rassismus Benachteiligte sind; prekär und informell Beschäftigte,
die sich nicht den Luxus leisten können, ihre Arbeit aufzugeben, die oft sehr
krankheitsanfällig sind, aber den größten Teil ihres Einkommens verlieren; die arbeitenden
Klassen, oft rassistisch unterdrückt, die unter den Folgen überfüllter
Lebensbedingungen und schlechter Ernährung leiden; Migrant*innen und Arbeiter*innen
im Ausland; Bauern, Bäuerinnen und Indigene in den Ländern des Südens;
gefährdete Menschen über 65 Jahre und ganz allgemein Menschen, die an
chronischen Krankheiten leiden: Auch wenn hier und da Persönlichkeiten des
öffentlichen Lebens, Künstler*innen und Politiker*innen vom Covid-19 betroffen
sind, haben zweifellos diejenigen, die Opfer von Armut und mehrfacher
Unterdrückung sind, den höchsten Tribut gezollt!
Vor
allem Frauen erleben verstärkt die Risiken und die Last ihrer beruflichen und
familiären Aufgaben sowie die Macho-Gewalt, die mit der Pandemie und den
Abriegelungen erzeugt oder verstärkt wurden.
Angesichts
der sozialen Katastrophen, die durch die Schließungen und Abriegelungen rasch
herbeigeführt wurden, brachen viele ‒ aber nicht alle ‒ Regierungen
vorübergehend mit dem Dogma der Haushaltsstrenge und gewährten soziale
Unterstützungsleistungen: wiederum von China bis zu den USA, einschließlich
verschiedener europäischer Länder. Diese Zulagen von einigen hundert Euro, die als
Einmalzahlung oder monatlich gezahlt wurden, haben als minimaler sozialer Stoßdämpfer
gedient und sogar dazu beigetragen, dass einige der unteren
Bevölkerungsschichten den politischen Führern ein wenig mehr Sympathie
entgegenbrachten, wie dies bei Bolsonaro in Brasilien der Fall war.
Diese
Politik neuer sozialer Sicherheitsnetze ist jedoch konjunkturell bedingt und
eindeutig nicht Ausdruck eines neokeynesianischen Wendepunkts bedeutender
Sektoren der Bourgeoisie. Die Explosion der Staatsverschuldung wird
langanhaltende und schwerwiegende Folgen haben, da sie als Vorwand für die Vertiefung
struktureller Konterreformen dienen wird, die auf Arbeitsverträge,
Gewerkschaftsrechte und soziale Sicherungssysteme abzielen. Die Regierungen werden
die Staatsschulden abtragen und bereiten dazu die neoliberale Rechnung vor (im
Besonderen, was die Reste des öffentlichen Dienstes angeht), indem sie erneut den
Diskurs der Wettbewerbsfähigkeit pflegen. Nirgendwo ziehen Regierungen die
hohen Einkommen und hohen Vermögen heran, deren Besitz sogar gestiegen ist.
Nirgendwo werden Pharmaunternehmen in einer Zeit großer Not verstaatlicht.
Die
Auswirkungen digitaler Armut sind während der Pandemie gestiegen:
*
Zugang zum Online-Unterricht. Mit Kämpfen von Lehrer*innen auf allen Ebenen für
Online-Unterricht, um die Risiken zu verringern, die der Präsenzunterricht in
Bildungseinrichtungen mit sich bringt, die nicht auf physische Distanz und die
Einhaltung von Barrieremaßnahmen ausgerichtet sind, wurden einige Siege
errungen; dies muss ergänzt werden durch Kämpfe für den Zugang der Schülerinnen
und Schüler zum Internet, zu Geräten und Arbeitsräumen;
*
der Zugang zu staatlichen und kommunalen Dienstleistungen ist zunehmend nur
noch über das Internet möglich;
*
das Internet-Shopping hat massiv zugenommen, sodass diejenigen, die nicht über
die notwendigen Werkzeuge verfügen (Internet, Kreditkarte) wachsende Schwierigkeiten
haben; hinzu kommt die zunehmende Ausbeutung derjenigen, die im Vertrieb
arbeiten (z.B. Amazon oder Zustelldienste).
Die Folgen auf der politischen Ebene und bei den
Kämpfen
In
diesem allgemeinen Kontext leiden die Legitimität der Regierungen wie auch die
Einsicht in die vorherrschende Profitlogik; es hat sich gezeigt, dass sie nicht
in der Lage sind, eine solche Katastrophe zu bewältigen. Die Arbeiter*innen,
insbesondere jene in der Grundversorgung und „an vorderster Front“ der
Pandemiebekämpfung, sind symbolisch aufgewertet worden. Aber aufgrund der
kombinierten Ängste vor Krankheit, Arbeitslosigkeit und Repression ist der Weg
des Kampfes für viele im Moment sehr schwierig! Der Widerstand hat es nicht
geschafft, zu wachsen und an die Hoffnungsschimmer im Juni anzuknüpfen.
In
vielen Ländern (wenn nicht sogar in den meisten) sind die großen Gewerkschaften
in der Pandemiekrise völlig abgetaucht. Nicht nur sind sie noch zurückhaltender
geworden und vermeiden noch mehr jeden größeren Konflikt, sie haben oft nicht
einmal etwas zur Krisenpolitik der herrschenden Klassen zu sagen. Dennoch
spielen sie nach wie vor eine wichtige Rolle in den täglichen Abwehrkämpfen der
Arbeiter*innenklasse. Deshalb wird es in Zukunft in vielen Ländern ‒ noch mehr
als in der Vergangenheit ‒ darauf ankommen, in den Gewerkschaften eine
klassenkämpferische Politik zu betreiben und die begrenzten Initiativen, die
von Gewerkschaften oder Strömungen mit einem kämpferischeren Ansatz ergriffen
werden, zu verallgemeinern.
Viele
der brodelnden oder latenten sozio-politischen Bewegungen aus der Zeit vor der
Pandemie sind durch die Verschärfung der Repression in Hongkong, Algerien und
Ägypten abgewürgt worden. Soziale und demokratische Bewegungen wurden während
der Epidemie auch in Chile, Irak, Frankreich, Katalonien … unterdrückt. Ist
ein rasches Wiederaufflammen in diesen Ländern möglich?
Dafür
wird es erforderlich sein, genauer zu analysieren, was aus den Basis-Strukturen
geworden ist, die sich auf die Solidarität stützen, die während der Pandemie in
der Bevölkerung aufgebaut und die in mehreren Ländern entwickelt wurde.
Glücklicherweise
haben sich seit Ende des Frühjahrs mehrere Massenbewegungen behauptet, die auf
unterschiedlichen Grundlagen stehen, aber einen gemeinsamen Hintergrund des
Kampfes für Demokratie und gegen das Funktionieren einer auf Konkurrenz
ausgerichteten Gesellschaft haben:
- Die Bewegung gegen Rassismus und Polizeigewalt, die in den USA ihren Anfang nahm, ist immer noch sehr stark – in Europa auch in Solidarität mit Migrant*innen auf einer begrenzteren, aber prinzipiellen Grundlage (wie die jüngsten Demonstrationen in Deutschland);
- das Wiederaufleben der Revolte im Libanon gegen die Korruption des konfessionellen Regimes aus Anlass der Explosion des Hafens von Beirut;
- der Aufstand in Mali;
- der Massenaufruhr in Belarus gegen die Herrschaft Lukaschenkos und seine ständig manipulierten Wahlen;
- die Revolte der thailändischen Jugend gegen die diskreditierte Monarchie;
- Der Wahlsieg im ersten Wahlgang der MAS in Bolivien als Ergebnis einer Massenmobilisierung;
- Der Volksaufstand in Chile hat für den 25. Oktober ein Referendum über die Verfassung der Pinochet-Diktatur erzwungen – eine Ablehnung wäre ein bedeutender Sieg.
Es
bleibt abzuwarten, in welcher Weise Bewegungen gegen den Klimawandel und die
massive Umweltverschmutzung und allgemeiner für ökologische Kämpfe einen neuen
Aufschwung, unter Einbeziehung der Lehren aus der Pandemie, nehmen können; oder
zu welch einem Wiederaufleben für die feministischen Bewegungen, die sich in
den letzten Jahren an der Spitze der Kämpfe behauptet haben, es kommen wird.
Es
gibt immer noch das Potential für Kämpfe und Aufstände gegen eine herrschende
Ordnung, die angesichts einer Profitklemme und einer wachsenden Delegitimierung
versucht, sich durch einen allgemeinen Autoritarismus zu stärken, aber mit
bestimmten Führern, die manchmal sogar aus Sicht der Bourgeoisie sehr
abenteuerlich sind. Aber dieses Potenzial hatte bisher aufgrund der Angst vor
der Pandemie und des Durcheinanders der Seuchenbekämpfungsmaßnahmen große
Schwierigkeiten, einen entsprechenden Ausdruck zu finden. Bislang ist es nicht
gelungen, das Kräfteverhältnis zu verändern und eine Alternative zum
Kapitalismus glaubwürdiger zu machen.
In
dieser Situation setzen sich die reaktionärsten und autokratischsten,
verschwörerischsten und rassistischsten Ideologien auf ihrer äußersten Rechten
durch, strukturieren sich und finden Unterstützer oder gar Anführer, um die
Unterdrückten und Ausgebeuteten anzugreifen, die auf diese Weise an die Macht
gelangen oder an ihr festhalten, wie Trump, Putin, Bolsonaro, Xi Jinping, Modi,
Duterte, Rohani, Netanjahu, Erdogan, Orban, Kaczynski … wobei die „vorzeigbareren“
Führer sie auch noch ermutigen, indem sie nämlich Angriffe auf demokratische
Prinzipien durchführen, wie es sie in ihrem jeweiligen Land seit Jahrzehnten nicht
gegeben hat.
Die
Wahlen vom 3. November in den USA werden ein entscheidendes Ereignis sein:
Sollten sie zu einer (wahrscheinlich illegitimen) Wiederwahl von Trump führen,
könnte das die Situation noch weiter verschärfen, und zwar mit einer
Polarisierung, bei der die extreme Rechte einen Vorteil erlangen würde,
verbunden mit Risiken einer Massenrevolte. Würde Trump hingegen aus dem Amt
gejagt, würde ein wichtiges Glied in der Kette der rechtsextremen und
autoritären Regierungen wegfallen. Wir haben keine Illusionen, was Biden
repräsentiert oder was er vorhat, aber es wäre weltweit frischer Wind für ausgebeutete
und unterdrückte Menschen im Kampf.
Schlussfolgerung
Die
Arbeiterbewegung, die sozialen Bewegungen (und wir selbst) sind entwaffnet,
hin- und hergerissen zwischen der Notwendigkeit, sich einerseits um die
Gesundheit zu kümmern und sich vor der Pandemie zu schützen, und andererseits
dem Widerstand gegen freiheitsbeschränkende Maßnahmen der Regierungen, die die
soziale Sicherung und die öffentlichen Gesundheitssysteme zerstört haben.
Revolutionär*innen
und antikapitalistische Aktivist*innen stehen vor großen Aufgaben! Wir müssen
helfen, Einheitsfronten der Ausgebeuteten und Unterdrückten gegen autoritäre
Regierungen und ultraliberale Programme zu schmieden und zu stärken.
In
der Notsituation, in der wir uns befinden, ist es überall unerlässlich, massiv
in öffentliche und frei zugängliche Dienstleistungen zu investieren, angefangen
bei den Gesundheitssystemen und der massiven Wiederbelebung von Sozialhilfe- und
Wohnungsbauprogrammen, die mittels Besteuerung der Reichen und der Gewinne
sowie der Verhinderung von Dividendenzahlungen finanziert werden. Es ist
erforderlich, die Pharmaindustrie und andere Industrien von allgemeinem
Interesse wie Energie, das Bankensystem und die Wasserversorgung zu vergesellschaften.
Die Produktionslinien sollten umgestellt werden, um die immensen sozialen
Bedürfnisse zu befriedigen und nicht die tödlichen Industrien der Rüstung, der
umweltschädlichen Chemikalien, der Luxusgüter usw. Die Landwirtschaft muss auf
nachhaltige Systeme der Bodenbearbeitung und der natürlichen Ressourcen neu
ausgerichtet werden. Diskriminierende Politik muss gestoppt, Grenzen müssen geöffnet
werden, um gefährdete Bevölkerungsgruppen zu schützen und den Austausch
zwischen den Menschen zu fördern, anstatt sie in Konkurrenz zueinander zu
setzen und Kriege zu provozieren!
Wir
müssen der Selbstorganisation der Bevölkerung und des Gesundheits- und
Pflegepersonals einen zentralen Platz einräumen. Die wirksamsten Maßnahmen zur
Bekämpfung der Pandemie sind diejenigen, die am breitesten akzeptiert werden,
weil sie von der Bevölkerung selbst zusammen mit den Beschäftigten im
Gesundheits- und Pflegewesen festgelegt werden. Es geht darum, die Macht über
unser Leben zurückzugewinnen.
Auf
diesem Weg, in den Kämpfen, im Widerstand gegen den destruktiven Kapitalismus,
für Demokratie und für eine alternative und nachhaltige Wirtschaftspolitik,
liegt die Möglichkeit, die heute ungünstigen nationalen Kräfteverhältnisse zu
verändern und eine ökosozialistische Alternative für die Menschheit zu
konkretisieren.
19.
Oktober 2020
Übersetzung: Jakob S.