Auch wenn wir heute
keine Staatskrise haben: Nicht nur die Corona-Proteste lassen es sinnvoll
erscheinen, einige Grundsatzfragen zur Rolle des Staates neu zu erörtern.
Jakob Schäfer
In der
Gewerkschaftspolitik wie bei Fragen der Wahlbeteiligung, bei Fragen der
Besetzung staatlicher Ämter (auch auf kommunaler Ebene) wie bei der
Grundausrichtung eines sozialistischen Programms ist ein korrektes Verständnis
des bürgerlichen Staates von zentraler Bedeutung.
Der Staat als eine
Folge gesellschaftlicher Arbeitsteilung
Unabhängig von den
konkreten Funktionen in den verschiedenen gesellschaftlichen Epochen weist der Staat
zwei zentrale Gemeinsamkeiten auf: Er entsteht (a) im Zusammenhang mit der
Entfaltung gesellschaftlicher Arbeitsteilung und (b) mit der Herausbildung von
Klassen. Ernest Mandel schreibt dazu: „Zu einer bestimmten Zeit der Entwicklung
menschlicher Gesellschaft, bevor sie sich nämlich in Klassen aufspaltete,
wurden bestimmte Funktionen wie das Recht, Waffen zu tragen oder Recht zu
sprechen, von allen erwachsenen Mitgliedern der Gemeinschaft kollektiv
ausgeübt. Erst im Rahmen der späteren Entwicklung und in dem Maß, wie sich die
Gesellschaft in Klassen aufspaltete, wurden diese Kompetenzen dem Kollektiv
entzogen und einer Minderheit vorbehalten, die sie auf besondere Art nutzt.“[1]
Laut Friedrich
Engels ist der Staat „ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter
Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in
einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche
Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese
Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und
die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der
Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb
der Schranken der ‚Ordnung‘ halten soll; und diese, aus der Gesellschaft
hervorgegangen, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr
entfremdende Macht ist der Staat.“[2] Und weiter: „Da der Staat
entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er
aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er
in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die
vermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt
zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse.“[3]
Über diese
allgemeine Bestimmung hinaus weist der „moderne Staat“, wie er sich in den
letzten 400 Jahren in (West)europa herausgebildet hat[4],
gewisse Züge auf, die es näher zu betrachten gilt. Dabei sollten wir
festhalten: Genauso wie in früheren Gesellschaftsepochen ist auch der Staat im
Kapitalismus nicht einfach von der herrschenden Klasse installiert worden.
Zweitens leitet er sich in seiner konkreten Form auch nicht logisch aus dieser
oder jener Kapitalentwicklung ab. Er ist aufgrund seiner komplexen Geschichte ‒
und von Land zu Land unterschiedlich ‒ ein Ergebnis konkreter
Auseinandersetzungen des Bürgertums (und später auch anderer Klassen) mit den
herrschenden Kräften der vorangegangen Gesellschaftsformation (vor allem dem
Feudaladel). Darauf weisen z. B. Poulantzas und mehr noch Hirsch hin. Methodisch
hat dies auch Ernest Mandel in seinen diversen Schriften hervorgehoben und auch
mit konkreten Analysen untermauert.[5]
In der feudalen
Gesellschaftsordnung genügte es ‒ zumindest genügte das den Herrschenden ‒, die
einfache Reproduktion
sicherzustellen. Das Besondre nun am bürgerlichen Staat ‒ am Staat im
Kapitalismus ‒ ergibt sich aus der spezifischen Produktionsweise. Marx hat dies
schon im I. Band des Kapitals ausreichend
klar gemacht hat: Im Unterschied zu früheren Gesellschaftsformationen
(Gesellschaftsordnungen mit jeweils eigener Produktionsweise) kommt es im
Kapitalismus darauf an, dass eine erweiterte
Reproduktion stattfindet und fortlaufend gesichert wird. Erweitert reproduziert
wird allerdings nur das Kapital, nicht unbedingt die Gesamtheit der
gesellschaftlichen Produktionsmittel.[6] Denn: Die Konkurrenz der
Kapitale (Kapitalismus ohne Konkurrenz kann es nicht geben) zwingt zur
ständigen Akkumulation. Das Kapital, das nicht erweitert reproduziert wird (das
also nicht akkumuliert wird, um bei der nächsten technologischen Entwicklung
mithalten zu können), ist dem Untergang geweiht.[7]
Deswegen ist das Prinzip des „Immer-Mehr“ dem Kapitalismus inhärent und kann
nicht mit bürgerlicher Politik (also im Rahmen der herrschenden Wirtschafts-
und Gesellschaftsordnung) ausgehebelt werden.[8]
Autonomie des
Staates in der bürgerlichen Gesellschaft
Marx hat seine
Staatstheorie nicht im Detail ausgearbeitet, ein dazu geplantes Werk wurde
nicht mehr realisiert, aber seine Hinweise sind hilfreich: „Er [der Staat]
verhält sich als ‚höhere Macht‘ zu ihren [der Familie und der bürgerlichen
Gesellschaft] ‚Gesetzen und Interessen‘. Ihr ‚Interesse‘ und ‚Gesetz‘ verhalten
sich als ein ‚Untergeordneter‘. Sie leben in der Abhängigkeit von ihm. Eben
weil ‚Unterordnung’ und ‚Unabhängigkeit‘ äußere,
das selbständige Wesen einengende und ihm zuwiderlaufende Verhältnisse sind,
ist das Verhältnis der ‚Familie‘ und der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ zum Staate
das der ‚äußerlichen Notwendigkeit‘,
eine Notwendigkeit, die gegen das innere Wesen der Sache geht.“[9]
Für die
kapitalistische Entwicklung reicht es nicht, dass die Instanz „Staat“ von den
unmittelbaren ökonomischen Privatinteressen unabhängig bleibt. Selbst die
Unabhängigkeit von den spezifischen Interessen großer Teile der kapitalistischen Klasse reicht nicht aus. Mehr als
in den vorangegangenen Gesellschaftsordnungen verfügt der bürgerliche Staat
über eine relative Autonomie, das heißt über ein gewisses Maß an Unabhängigkeit
auch gegenüber den ökonomisch Herrschenden.
Mandel zitiert Elmar
Altvater: „Das Kapital kann somit von sich aus in seinen Aktionen die
Gesellschaftlichkeit seiner Existenz gar nicht produzieren; es bedarf auf
seiner Grundlage einer besonderen Einrichtung, die seinen Grenzen nicht
unterworfen ist, deren Handeln also nicht von der Notwendigkeit der [eigenen]
Mehrwertproduktion bestimmt ist und die gleichzeitig auf der unangetasteten
Grundlage des Kapitals den immanenten Notwendigkeiten nachkommt, die das
Kapital vernachlässigt. […] Der Staat kann also weder als bloß politisches
Instrument noch als vom Kapital aufgehobene Institution begriffen werden,
sondern nur als besondere Form der Durchsetzung der gesellschaftlichen Existenz
des Kapitals neben und außerhalb der Konkurrenz.“[10]
Die formale
Rechtsgleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer voll entfalteten
Warenwirtschaft ‒ einschließlich des scheinbar gleichwertigen Tauschs von
Arbeit gegen Lohn[11] ‒ ist die Grundlage für den
Waren‑, aber auch für den Staatsfetischismus.[12] Die institutionelle Basis
für die relative Autonomie des Staates liegt in der Vielfältigkeit seiner
Aufgaben und dem Ausmaß seiner Apparate, die infolgedessen ein gewisses
„Eigenleben“ entwickeln.[13]
Die materielle Basis
des Staates sind die Steuern, ohne sie kein kapitalistischer Staat! Und ohne
Repressionsinstrumente (Armee, Polizei, Justiz, Strafvollzug) ist alles andere
Schall und Rauch. Der Staat erfüllt allerdings seinen Zweck dann am besten,
wenn er wenig Repression einsetzen muss, denn diese hat letztlich
Reibungsverluste zur Folge. Gramsci beschreibt dies so: „Die normale Ausübung
von Hegemonie zeichnet sich durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die
sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne dass der Zwang zu sehr über
den Konsens überwiegt.“
Grundlegend für die Machtausübung
und Sicherung ist zunächst die Verfügungsgewalt über bestimmtes Wissen. „Die
bürokratische Verwaltung bedeutet: Herrschaft kraft Wissen: dies ist ihr
spezifisch rationaler Grundcharakter. Über die durch das Fachwissen
bedingte gewaltige Machtstellung hinaus hat die Bureaukratie (oder der Herr,
der sich ihrer bedient), die Tendenz, ihre Macht noch weiter zu steigern durch
das Dienst-wissen: die durch Dienstverkehr erworbenen oder ‚aktenkundigen‘
Tatsachenkenntnisse. Der nicht nur, aber allerdings spezifisch bureaukratische
Begriff des ‚Amtsgeheimnisses‘ – in seiner Beziehung zum Fachwissen etwa den
kommerziellen Betriebsgeheimnissen gegenüber den technischen vergleichbar –
entstammt diesem Machtstreben. Überlegen ist der Bureaukratie an
Wissen: Fachwissen und Tatsachenkenntnis, innerhalb seines Interessenbereichs,
regelmäßig nur: der private Erwerbsinteressent. Also: der
kapitalistische Unternehmer. Er ist die einzige wirklich gegen
die Unentrinnbarkeit der bureaukratischen rationalen Wissens-Herrschaft
(mindestens: relativ) immune Instanz. Alle andern sind
in Massenverbänden der bureaukratischen Beherrschung unentrinnbar
verfallen, genau wie der Herrschaft der sachlichen Präzisionsmaschine in der Massengüterbeschaffung.“[14]
Althusser,
Poulantzas und andere knüpfen daran an, aber Poulantzas macht einen
entscheidenden Fehler (in gewisser Weise bei Althusser, seinem Lehrer, schon
angelegt): Poulantzas führt diese Ebene des Machterhalts und der
Machtausdehnung des Staates auf die Trennung von Kopf- und Handarbeit zurück
und sieht darin die Kernursache für die Entstehung bzw. Fortexistenz und
Weiterentwicklung des Staates.[15]
Wenn man die
spezifisch für die (Staats)bürokratie nützliche Wissensanhäufung nicht auseichend
konkretisiert und stattdessen alle Arbeitsteilung unter die Trennung von Hand-
und Kopfarbeit subsumiert, dann kann man neuere Entwicklungen ‒ erst recht die
der „Wissensgesellschaft“ ‒ überhaupt nicht mehr erklären. Schließlich ist es
so ‒ und auch in den 1970er Jahren, als Poulantzas seine Bücher schrieb, schon
gut erkennbar ‒, dass es gerade nicht
eine fortschreitende Trennung von Hand- und Kopfarbeit gibt. Neuere
technologische Entwicklungen ‒ schon im Fordismus! ‒ wären auf diese Weise nie möglich
gewesen. Es fand schon im Fordismus eine wachsende Reintegration der Kopfarbeit
in den Produktionsprozess statt. Erst recht ist der Postfordismus zu einem
erheblichen Teil auch eine Wissensgesellschaft, was allein schon daran
ersichtlich ist, dass der Staat heute in zunehmendem Maß z. B. auf digitale Kompetenzen von Privatfirmen und der dort
arbeitenden Menschen angewiesen ist.
Zudem kann der Staat
nicht nur als Verdichtung von Kräfteverhältnissen angesehen werden, sondern
muss vor allem von seinen Grundfunktionen ausgehend begriffen werden. Ohne eine
solche Staatsableitung hängt die Darstellung der „relativen Autonomie“ völlig in
der Luft. So ist beispielsweise die Begrenzung der Höchstarbeitszeit in England
(Einführung des Zehn-Stunden-Gesetzes) ohne ein solches Verständnis nicht zu
erklären. Dieses Gesetz diente der physischen Erhaltung der Arbeiter*innen und
war gleichzeitig eine Vorkehrung gegen politisch nicht kontrollierbare
Aufstände. So hat also der kapitalistische Staat in jeder seiner Phasen nicht
eine abstrakte Funktion erfüllt, sondern jeweils das umgesetzt, was sowohl dem
Eigeninteresse des Staatsapparats als auch dem Erhalt der kapitalistischen
Produktionsweise (und damit der ökonomischen Macht des Kapitals) diente.
Aufgaben und Funktionsabsicherung
des Staats
Ausgangspunkt einer
korrekten Wesensbestimmung muss sein, dass wir den bürgerlichen Staatsapparat
nicht als eine Ansammlung von Spitzenpolitikern oder Bürokraten (Spitzenbeamten
des Staates) sehen, die vom Kapital ihre Order bekommen. Nichts wäre falscher
als das!
Der bürgerliche
Staat erfüllt dann – und nur dann optimal ‒ seine Funktion, wenn er bestmöglich
für die Absicherung der kapitalistischen Produktionsweise sorgt. Ganz
unmittelbar sorgt der bürgerliche Staat für die ökonomische, soziale und
technische Infrastruktur. Dies reicht von der Sicherung der Geldwirtschaft bis
dahin, dass der Staat notfalls eigene Wirtschaftsunternehmen gründet, um die
ökonomische oder technische Infrastruktur für die gesamte kapitalistische
Klasse zu verbessern. In Frankreich ist ‒ historisch bedingt ‒ diese Tätigkeit
viel ausgeprägter als in der BRD. Vor allem säkulare Projekte fallen in der
Regel dem Staat zu, also jene wirtschaftlichen Investitionen, die für das
Einzelkapital nicht zu stemmen wären (bzw. zu wenig Profite abwerfen würden).
Ein Extrembeispiel ist die Gründung der Reichswerke Hermann Göring im
Faschismus (Juli 1937), um die Auslandsabhängigkeit bei Rohstoffen auf ein
Minimum zu reduzieren.
Aber die Aufgaben
reichen weiter: „Materielle Umverteilungen innerhalb und zwischen den Klassen
sind ohne staatliche Gewalt nicht realisierbar und die Existenz von Staaten
bleibt elementar für die Regulation der Klassenverhältnisse, für die
Legitimation der herrschenden Verhältnisse und für die Gewährleistung eines gewissen sozialen Zusammenhalts.“[16]
All dies muss auch
von einem bestimmten Personal umgesetzt werden. Wie Mandel betont, ist es ein
mechanischer Fehler, die bürgerliche Klasse auf die „fungierenden Kapitalisten“
zu reduzieren. Sämtliche Kapitalbesitzer gehören zu dieser Klasse, also auch
die Rentiers (Couponschneider), hoch bezahlte Manager usw. Eine wichtige
„Nebenlinie“ der Bourgeoisie bilden die „Berufspolitiker“ und die oberen Ränge
der Staatsbürokratie. Dieses „Nebenlinie“ wächst im Gleichklang mit der
Hypertrophie des Staates. Diese Bürokratie identifiziert sich weitgehend mit
dem Staat „an sich“ und dieser Identifizierung entspricht am genauesten die
Ideologie des Gesamtinteresses der Gesellschaft.
Mandel: „Die hohen
Einkünfte der Spitzen des Staatsapparates, ihr Zugang zu vertraulichen
Informationen für einträgliche und gesicherte Spekulationen…sichert in quasi
automatischer Weise die Einbindung (Integration) von Spitzenpolitikern und
Spitzenbeamten in die bürgerliche Klasse, ungeachtet ihrer Herkunft, weil es
ihnen Akkumulation von Geldkapital ermöglicht. Als Kapitaleigner sind sie dann
an der Erhaltung des Grundbestands der bürgerlichen Ordnung interessiert.“[17]
„Diese Selektionsverfahren – die weniger
auf direktem Ämterkauf, Nepotismus, Vererbung von Pfründen oder Belohnung von
Diensten an Staatshäuptern beruhen, wie dies in vorkapitalistischen Staaten der
Fall war – fußen in beträchtlichem Ausmaß
auf Leistungszwang und Konkurrenz, die selbstverständlich nicht von der in der
kapitalistischen Produktionsweise wurzelnden Konkurrenz und Leistungszwang in
der materiellen Produktion willkürlich getrennt werden können. Wichtig jedoch
ist es zu unterstreichen, dass sich in diesem Selektionsprozess
Verhaltensweisen und Denkformen durchsetzen müssen,
die erfolgreiche bürgerliche Politiker und hohe Beamte objektiv zu
Instrumenten der Klassenherrschaft des Bürgertums gestalten, unabhängig von
ihrer persönlichen Motivierung oder ihrem subjektiven Selbstverständnis.“[18] Nur wer also den Klasseninteressen des
Kapitals entspricht, kann entsprechend aufsteigen. Dies nicht erkannt zu haben,
ist ein wesentlicher Schwachpunkt aller Reformist*innen.
Mandel schreibt:
„Aber nicht nur der hierarchische Aufbau bestimmt die Rolle des bürgerlichen
Staates als Herrschaftsinstrument der bürgerlichen Klasse. Seine Struktur
selbst ist das hier entscheidende Moment, welches bewirkt, daß dieser Staat –
auch in seiner demokratischsten Form – diese Rolle und nur diese Rolle spielen kann.“ Und als Fußnote fügt er hinzu:
„Unkenntnis des Strukturcharakters des bürgerlichen Staates und der
kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist der Hauptfehler aller Reformisten
und Neo-Reformisten, inkl. jener mit den ‚besten Absichten‘: der Befürworter
‚systemüberwindender‘ Reformen und der Anhänger des Konzepts des
‚anti-monopolistischen‘ Bündnisses“.[19]
„Den bürgerlichen Staatsapparat zur sozialistischen Umgestaltung der
Gesellschaft benutzen zu wollen, unterscheidet sich nicht von der Illusion,
eine Armee mit Hilfe pazifistischer Generäle auflösen zu können.“[20]
„Bedenkt man
überdies, wie stark die Vorherrschaft der allgemeinen Ideologie des Bürgertums
auch im Proletariat in ‚ruhigen Zeiten‘ bleibt und bleiben muß; wie sehr
mehrere ‚Grundmythen‘ als selbstverständlich gelten, gerade weil sie nichts
anderes sind als ein ideologischer Reflex der bestehenden gesellschaftlichen
Verhältnisse, dann versteht man, welche gewaltige integrierende Kraft von der
bürgerlichen Staatsform ausgeht ‒ eine Kraft, die nicht zuletzt führende Kader
von Arbeitermassenparteien und Massengewerkschaften über die Symbiose mit dem
Staatsapparat in zahlreichen konzertierenden Gremien zu systemkonformem
Verhalten, wenn nicht sogar zu praktischer Aussöhnung mit dem Spätkapitalismus
verleitet.“[21]
Im
vorimperialistischen Stadium des Kapitalismus war der Staat vergleichsweise
schwach. Der Hauptunterschied zur vorangegangenen Gesellschaftsordnung lag seinerzeit
darin, dass die herrschende Klasse weniger direkte Gewalt zur Durchsetzung der
unmittelbaren Zwangs- und Knechtschaftsverhältnisse benötigte.
In dem Maße, wie
sich allerdings die Klassenkämpfe verschärften (also die ideologische
Integration nicht mehr ausreichend für Klassenruhe sorgen konnte), wuchs die
Macht des bürgerlichen Staates, und zwar sowohl in seiner unmittelbar
ökonomischen Rolle wie auch beim Einsatz vermehrter Repression. Dabei findet
ein bedeutsamer Ausbau des eigentlichen Staatsapparats statt, der für eine
eigene „interne“ Kontinuität sorgt. Will heißen: Die offizielle Staatsspitze
kann (seit Beginn des 20. Jahrhunderts sogar in wachsendem Maß) relativ problemlos
ausgetauscht werden, ohne dass damit der ganze Funktionszusammenhang oder die
Aufgabenbestimmung des Gesamtapparates gefährdet wird. Mehr und mehr entwickelt
dieser Apparat eine sehr funktionsfähige Infrastruktur, deren wichtiges
Personal der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt ist. In den letzten
Jahrzehnten wurde dies in einigen Ländern (am besten bekannt für den Fall der
Türkei) noch durch eine Entwicklung des „tiefen Staates“ ergänzt, also einer
konspirativen Verflechtung von Geheimdiensten, Militär und Teilen des
traditionellen engeren Staatsapparats.[22]
Wir sollten
festhalten ‒ auch Poulantzas hat dies zu Recht betont –, dass es keine
unaufhaltsame lineare Tendenz in Richtung autoritärer oder gar faschistischer
Staat gibt. Die Behauptung von einer allgemeinen „Faschisierung“ des Staates
ist purer Unsinn, weil dies nicht die wechselnden Kräfteverhältnisse und die daraus
sich für die Bourgeoisie ergebenden Konsequenzen wahrnimmt. Georg („Schorsch“)
Jungclas schreibt dazu: „Die Bourgeoise übt ihre Herrschaft jeweils in der Form
aus, die vom Standpunkt ihrer Klasseninteressen die zweckentsprechendste ist.“[23] Zur Bevorzugung dieser
oder jener Form des bürgerlichen Staates (parlamentarische Demokratie, Bonapartismus,
Militärdiktatur, Faschismus) gelangt die Bourgeoisie natürlich nicht mittels weisen Beschlusses eines
Rates aller Kapitalist*innen. Gerade aufgrund der relativen Autonomie des
Staates kann es zu sehr zähem Ringen und Kräftemessen kommen. So hat sich in
Frankreich nach den revolutionären Unruhen von 1848 erst im Verlauf von mehr
als anderthalb Jahren der Bonapartismus durchgesetzt.[24]
Veränderungen der
konkreten Staatsaufgaben im Spätkapitalismus
Im Kapitalismus
haben wir einen scheinbar widersprüchlichen Prozess, der aber bei genauerem
Hinsehen keine wirklichen Verständnisprobleme bereitet. Auf der einen Seite
entwickelt der bürgerliche Staat mit dem Entstehen des Imperialismus eine
zunehmend aktive Rolle zur Sicherung der unmittelbaren
Profitinteressen des heimischen Kapitals (mit der Entwicklung des
„Wettbewerbsstaates“ steigert sich dies sogar qualitativ[25]).
Auf der anderen Seite verstärkt der Staat mit der Zunahme weiterer konkreter
Funktionen und dem Ausbau seiner Apparate die relative Autonomie des Staates
gegenüber den unmittelbaren Wirtschaftsinteressen dieser oder jener
Kapitalfraktion. Da dieser Ausbau des Staates automatisch mit einer Stärkung
der materiellen und politischen Interessen der Staatsagenten einhergeht, sind
nicht wenige Menschen davon überzeugt, dass der Staat ein klassenunabhängiges
Gebilde ist, das gerade nicht den eingangs zitierten Aussagen von Engels
entspricht.
Im Postfordismus
kommt es zu einem gewaltigen Ausbau der internationalen Wertschöpfungsketten.
Foster/Suwandi schreiben: „Die Covid-19-Pandemie mit ihren Lockdowns und den
Maßnahmen sozialer Distanzierung ist ‚die erste globale Lieferkettenkrise‘
(Stefano Feltri, Why Coronavirus Triggered the First Global Supply Chain
Crisis‘ in Pro-Market, 5. März 2020). Sie hat zu ökonomischen Wertverlusten,
enormer Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, dem Zusammenbruch von Firmen,
weit verbreitetem Hunger und anderen Entbehrungen geführt.“[26]
Die Autoren schreiben weiter (und zitieren dabei Elisabeth Braw[27]), dass beispielsweise
Volkswagen „ ‚5000 direkte Zulieferer hat, die alle noch einmal im Durchschnitt
250 Zulieferer der zweiten Ebene besitzen. Dies bedeutet, dass die Firma
tatsächlich 1,25 Millionen Zulieferer hat, von denen sie [eine multinationale
Firma] die große Mehrheit nicht kennt.‘ Zulieferer der dritten Ebene sind dabei
noch gar nicht berücksichtigt.“[28]
Die qualitativ
gesteigerte Verflechtung der Weltwirtschaft – bedeutend mehr Welthandel sowie
gewaltig ausgedehnte Lieferketten ‒ hat weitreichende Folgen für die konkreten
Aufgaben des Staates. Der in diesem Prozess sich entwickelnde Wettbewerbsstaat
erfordert von den Staatsapparaten andere Mittel, als es sie noch im Fordismus
gab, u. a. auch und gerade die verstärkten internationalen Aktivitäten (WTO
usw.), im Extremfall bis hin zu wieder mehr bewaffneten Interventionen. Die
Staatsfunktionen nehmen also zu!
Natürlich ist ein
Wettbewerbsstaat in aller Regel auch weiterhin ein Nationalstaat (die Fälle, in
denen er mehrere Nationen abdeckt, sind hier mitgedacht) und somit auch als
reiner Apparat schon darum bemüht, sich (national und international) zu
behaupten. Die relative Autonomie wirkt fort, aber der Staat entwickelt kein
von Klasseninteressen unabhängiges oder „neutrales“ Eigenleben.
Das nimmt im
Wettbewerbsstaat sehr handfeste Formen an. Es gibt keinen bedeutsamen
Staatsbesuch in China, Russland, Saudi-Arabien usw., bei dem nicht große
„Wirtschaftsdelegationen“ mitreisen, denen die staatlichen Vertreter ‒ von
Guttenberg (siehe Wirecard) bis Altmeier ‒ die Türen öffnen.
Die Konkurrenz der
Standorte erleichtert es den Herrschenden ganz beträchtlich, den Druck auf die
Lohnabhängigen (und andere unterdrückte Schichten) zu erhöhen. Gleichzeitig
hilft diese Konkurrenz der Wettbewerbsstaaten, ein Nationalgefühl herzustellen
oder zu festigen (Fetisch der „Volksgemeinschaft“). Die international
agierenden Unternehmen brauchen aber auch staatliche Unterstützung bei der
Absicherung ihrer Geschäfte. Nicht zuletzt die Herrschaft über die Peripherie
wäre ohne die aktive Tätigkeit der imperialistischen Staaten nicht in dem heute
vorhandenen Maß aufrechtzuerhalten. Hirsch: Das globale kapitalistische System
ist ein „veränderliches Netzwerk
gegensätzlicher und zugleich verbundener einzelstaatlicher, gegebenenfalls
regionaler Akkumulations- und Regulationszusammenhänge.“[29]
Basis und Überbau
Gerade in der
bürgerlichen Gesellschaft besteht der Staat aus sehr viel mehr als nur den
Spitzen des Staatsapparats. Gramsci legte großen Wert darauf, hervorzuheben,
dass in dem Gesamtgebilde, das den Menschen als Staat gegenübersteht, eine
Reihe von „Institutionen“ mit zu betrachten sind: Medien, Kirche, Familie.[30] Für Gramsci sind letztlich
auch Parteien, Verbände, Universitäten usw. Teil der „zivilen Gesellschaft“ und
Bestandteile des regulativen Systems und damit Teil des Staates, also Teil der
verdichteten Kräfteverhältnisse.
Für seine Funktionsabsicherung
nutzt der Staat nicht zuletzt ideologische
Staatsapparate. Diese Begrifflichkeit geht auf Althusser zurück[31] und wird von Poulantzas
(teilweise abgewandelt) aufgegriffen. Im Grunde aber ist diese Erkenntnis nicht
neu. Marx und Engels führen aus: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in
jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschend
materielle Macht der Gesellschaft
ist, ist zugleich ihre herrschende geistige
Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zur Verfügung hat,
disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion.“[32] Kurz: Auch im Kapitalismus
des 19. Jahrhunderts wirkten diese Apparate, damals mit einer größeren Rolle
der Kirche, aber ebenfalls schon mit der kapitalistisch erziehenden Rolle der
Schule, der Medien usw.
Aus den Ausführungen
zur eigenständigen Rolle des Staates leitet sich auch ab, dass die oft
verwendete Charakterisierung des Staates als „Überbau“ ganz leicht zu
Missverständnissen führen kann und deshalb tunlichst vermieden werden sollte. Gramsci
schreibt dazu:
„Ökonomie und Ideologie. Die Behauptung, die wie ein grundlegendes Postulat des historischen Materialismus vorgebracht wird, daß jede Bewegung in der Politik und der Ideologie als ein unmittelbarer Ausdruck der Basis darzustellen und zu erklären ist, muß theoretisch als primitiver Infantilismus und praktisch mit dem authentischen Zeugnis von Karl Marx bekämpft werden, der konkrete historische und politische Werke verfaßt hat. […]
- Die Schwierigkeit, die Basis jeweils statisch (wie eine fotografische Momentaufnahme) zu erfassen. Die Politik ist in der Tat stets die Widerspiegelung der Entwicklungstendenzen der Basis, diese Tendenzen müssen aber nicht unbedingt zu ihrer vollen Entfaltung kommen. Eine Phase der Basis kann erst dann konkret studiert und analysiert werden, wenn sie ihren gesamten Entwicklungsprozeß durchlaufen hat, und nicht schon während des Prozesses selbst. In diesem Fall darf man nur eine Hypothese aufstellen, wobei man ausdrücklich betonen muß, daß es sich um eine Hypothese handelt.
- Daraus folgt, daß einer bestimmten politischen Handlung durchaus ein Kalkulationsfehler von Führern der herrschenden Klassen zugrunde gelegen haben kann, ein Fehler, den die historische Entwicklung im Zuge der parlamentarischen Regierungskrisen der herrschenden Klassen korrigiert und überwindet: Der mechanische historische Materialismus zieht die Möglichkeit des Irrtums überhaupt nicht in Betracht, sondern sieht jeden politischen Akt unmittelbar durch die Basis bestimmt, das heißt als eine Widerspiegelung einer realen und dauerhaften (erworbenen) Veränderung der Basis. Das Prinzip des „Irrtums” ist komplex: Er kann auf einem individuellen Impuls auf Grund falscher Einschätzung beruhen oder auch Ausdruck eines Versuchs bestimmter Gruppen und Grüppchen sein, die Vorherrschaft innerhalb der herrschenden Gruppierung an sich zu reißen; Versuche, die scheitern können.
- Es wird nicht genügend berücksichtigt, daß viele politische Handlungen durch eine innere Notwendigkeit der Organisation verursacht werden, das heißt, sie sind durch das Erfordernis bedingt, einer ‚Partei‘, einer Gruppe, einer Gesellschaft einen geschlossenen Charakter zu geben. Das zeigt sich zum Beispiel klar in der Geschichte der katholischen Kirche. Wenn man für jeden ideologischen Kampf innerhalb der Kirche die unmittelbare und ursprüngliche Erklärung in der Basis suchen wollte, würde man schön hereinfallen …“[33]
Zu den von Gramsci
so bezeichneten „Kalkulationsfehlern“ will ich ein Beispiel geben, das mir
schlagend erscheint: Hätten die entscheidenden staatlichen Stellen am 10. Mai
1968 nicht in Paris die Studierenden angegriffen, sondern hätten sie sich zu
Gesprächen und Zugeständnissen bereit erklärt, dann wäre es nicht zur „Nacht
der Barrikaden“ gekommen. Die aber wurde im ganzen Land live übertragen, die
Repression der Polizei hat eine gewaltige Empörung ausgelöst. Drei Tage später,
am Montag, den 13. Mai, begann der größte Generalstreik in der französischen
Geschichte (9,5 Mio. Streikende) und eine bis dahin nicht dagewesene breite
gesellschaftliche Mobilisierung, die die französische Geschichte (auch die
Entwicklung jenseits der Landesgrenzen) über Jahre geprägt hat und für eine
gewisse Zeit die Kräfteverhältnisse in Frankreich spürbar verändert hat. Mehr
noch: Wie Daniel Bensaïd mehrfach in seinen Reden und Schriften erklärt hat:
Ende des Monats stand drei Tage lang nicht fest, in welche Richtung sich das
Kräftemessen entwickeln würde. Der Staat ‒ in dem Fall die „V. Republik“ ‒
befand sich in einer bis dahin nicht dagewesenen Krise.
Der Staat ist und
bleibt ein Klassenstaat
Nur wenn wir die bisherigen
Ausführungen in ihrem Kern ernst nehmen, können wir uns wieder auf Marx und
Engels beziehen und richtig einordnen, was sie im Kommunistischen Manifest geschrieben haben: „Die moderne
Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der
ganze Bourgeoisie verwaltet.“[34]
Oder auch Engels: „Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich
kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist.“[35]
Mit anderen Worten:
Die Erkenntnis, dass der bürgerliche Staat (mehr als seine Vorgänger) über eine
weitreichende Autonomie verfügt (selbst der weit gebräuchliche Begriff „relative
Autonomie“ ist eher zu schwach), bedeutet nicht, dass dieser Staat ein
Eigenleben hat, das es ihm ermöglicht, sich von den Interessen der herrschenden
Klasse, nämlich der Aufrechterhaltung der kapitalistischen
Produktionsverhältnisse, abzukoppeln oder sie zu bekämpfen. Für die im
Staatsapparat Tätigen (mindestens an ihrer Spitze) bestehen auch ganz eigene
Interessen, vorrangig die der eigenen materiellen Absicherung, unabhängig von
der gerade bestehenden Kapitalprofitabilität. Aber auch die sind letztlich an
die Fortexistenz der kapitalistischen Produktionsweise gebunden.
Eine Politik, die
dies nachhaltig untergraben würde, käme einem Selbstmord der hohen
Staatsbeamten gleich. Mehr noch: Würden bedeutende Kapitalkreise (ganz gleich,
ob in offiziellen Verbänden organisiert oder nur „privat“ miteinander verbunden)
eine solche Gefahr sehen, dann würden sie unverzüglich mit „einsichtigen“
Kreisen der Armee, der Polizei usw. einen Staatsstreich in die Wege leiten. Der
kann bonapartistisch oder in Form einer Militärdiktatur (notfalls auch
faschistisch) umgesetzt werden. So hat sich in Deutschland im Jahr 1932 das
Großkapital hinter Hitler versammelt, eingeleitet durch die Einladung Hitlers
im Industrieclub zu Düsseldorf (26. 1. 1932), als er vor 300 handverlesenen
Großkapitalisten (Frauen waren keine dabei) sein Programm darlegen konnte. Nicht
anders war es bei den Beispielen, die Ernest Mandel in seinem Aufsatz „Methodisches
zur Klassennatur des bürgerlichen Staates“ anführt.[36]
Die hohen
Staatsbeamen haben nicht nur ein ideologisches Interesse an der Aufrechterhaltung
des Kapitalismus. „Wer aus Angst, dem ‚Vulgärmarxismus‘ zu verfallen
oder sich
in ‚beschreibendem Kleinkram‘ zu verlieren, dieses Moment aus der Analyse des Strukturcharakters der bürgerlichen Gesellschaft, die Staat und Bourgeoisie unzertrennlich
miteinander verbinden, ausschaltet, verliert den Blick für ein Wesensmoment dieser
Gesellschaft, d.h. des Kapitals selbst. Denn universeller Bereicherungstrieb und universelle
Geldwirtschaft
sind nicht eine ‚externe‘ Nebenerscheinung, die der kapitalistischen Produktionsweise irgendwie aufgepfropft wäre: sie sind strukturelle Wesenszüge dieser Gesellschaft, von deren Wirkungen sich
keine Gruppe
von Menschen dauerhaft befreien kann, demnach auch nicht Berufspolitiker oder
Bürokraten.
Nicht individuelle Korruption, sondern die unvermeidlichen Auswirkungen der dem
Kapitalismus immanenten Tendenz, jede beträchtliche Geldsumme in eine Quelle von Mehrwert zu verwandeln, d.h. zu kapitalisieren, liegen an der Basis dieser Analyse.“[37]
Heute sieht die
Verbindung von Staatsapparat und Großkonzernen so aus, dass die gegenseitige
„Beratung“ über die offizielle Lobbyistenschiene verläuft. Wie unverfroren man
dabei vorgeht, zeigt die speziell dafür eingerichtete Beurlaubung des
Diplomaten Jens Hanefeld (Außenministerium), damit er bei VW als Leiter
der Abteilung „Internationale und Europäische Politik“ fungieren kann.[38]
Ohne Gegenmacht
keine Infragestellung des Staates
Sowohl die
sorgfältige Analyse des strukturellen Charakters des bürgerlichen Staates als
auch die Auswertung aller geschichtlichen Erfahrungen des Kampfs gegen den
Staat im Kapitalismus machen unmissverständlich klar: Ein scheibchenweises
Überwinden der kapitalistischen Staatsordnung und ein Hinübergleiten in eine
demokratisch-sozialistische Verwaltung des Gemeinwesens (gar mit der Tendenz
des Absterbens staatlicher Macht) ist schlicht nicht vorstellbar. Die Angst,
die Notwendigkeit des revolutionären Bruchs offen auszusprechen, zeichnet
allerdings nicht nur ausgemachte reformistische Organisationen wie etwa die
Partei Die LINKE aus, die meinen, dass eine solche Klarstellung abschrecken und
ihrer „Realpolitik“ schaden würde.
So drückt sich auch
der vielseits geschätzte Poulantzas (der keinem „realpolitischen Druck“
ausgesetzt war) um diese Klarstellung, wenn er beispielsweise ausführt: „Die
radikale Transformation des Staatsapparats in einem demokratischen Weg zum
Sozialismus impliziert, dass es nun nicht mehr um das gehen kann, was man
traditionellerweise als Zerschlagung oder Zerstören dieses Apparats bezeichnet.“[39]
Ursache für Poulantzas‘
Herangehensweise ist seine fehlerhafte Aufarbeitung der Geschichte, wenn er bei
Lenin „Keime des Stalinismus“[40] ausmacht und einen
Widerspruch zwischen Rätemacht und Demokratie sieht. Die Oktoberrevolution
sieht Poulantzas nur vor dem Hintergrund des zaristischen Russlands als
gerechtfertigt bzw. in dieser Form für notwendig an. Verallgemeinernde Lehren
daraus zu ziehen, wie Lenin und vor allem die III. Internationale in ihrer
Anfangszeit (also vor ihrer stalinistischen Degeneration) vorschlugen, lehnt
Poulantzas ab.[41]
Der Kern seines
Missverständnisses liegt in seiner Gleichstellung einer „jakobinischen
Tradition“ mit der Rätemacht, die im Gegensatz zur „Selbstverwaltung und der
direkten Basisdemokratie“ stehe.[42] Er erklärt das so: „War
nicht diese Situation, diese Linie (die radikale Ersetzung der repräsentativen
Demokratie durch die bloße Rätedemokratie) der grundlegende Faktor für das, was
in der Sowjetunion bereits zu Lenins Lebzeiten geschehen ist, und der den
zentralistischen und etatistischen Lenin hervorbrachte, dessen Erben man kennt?“[43] Wieso sich Rätedemokratie
und Selbstverwaltung aber angeblich gegenseitig ausschließen, erklärt er nicht.
Umgekehrt wird ein Schuh draus: Ohne politische Struktur, die die Selbstverwaltung
überhaupt ermöglicht und ökonomisch sowie politisch absichert, ist ein
Absterben des Staates (also der Kampf gegen den Etatismus) gar nicht
vorstellbar. Den Etatismus (im Namen der Selbstverwaltung) abzulehnen, aber gleichzeitig
den radikalen Bruch mit dem bürgerlichen Staat abzulehnen, ist nicht gerade
besonders konsequent.
Um sein
Etappenmodell zu rechtfertigen führt Poulantzas aus: „Der kapitalistische Staat
wird dabei [von den Verfechtern der Rätedemokratie] als bloßes Objekt oder
Instrument betrachtet, das von der Bourgeoisie, deren Produkt er ist, nach
Belieben manipuliert werden kann ‒ man gesteht ihm also keine inneren
Widersprüche zu. […] Wenn die Sowjets en bloc den bürgerlichen Staat ersetzen
sollen, so bedeutet dies nicht mehr, dass die bürgerliche Demokratie durch die
direkte Basisdemokratie ersetzt wird. Das Problem ist nicht mehr der
Anti-Staat, als vielmehr der Parallel-Staat,
der dem instrumentalistischen Modell des gegenwärtigen Staates nachgebildet ist
und insofern ein proletarischer Staat sein soll, als er von oben durch die
revolutionäre ‚Einheits‘partei kontrolliert und besetzt wird.“[44]
Wenn man auf diese
Weise Rätedemokratie mit Stalinismus verwechselt (also mit einem System der „Einheitspartei“,
ohne demokratische Willensbildung usw.), dann verbaut man sich natürlich den
Weg für die Ausarbeitung einer tatsächlichen Alternative zur bürgerlichen
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Noch eindeutiger kommt Poulantzas‘ gradualistische
Sichtweise in folgenden Ausführungen zum Ausdruck: „Der demokratische Weg zum
Sozialismus ist ein langer Prozess, in dem der Kampf der Volksmassen nicht auf
die Errichtung der Doppelherrschaft zielt, die parallel zum Staat und außerhalb
von ihm verläuft, sondern sich auf die inneren Widersprüche des Staates
richtet. […] Die Macht ist keine quantifizierbare Substanz, die der Staat
besitzt und die man ihm entreißen müsste. Die Macht besteht aus einer Serie von
Verhältnissen zwischen den gesellschaftlichen Klassen, die sich par excellence
im Staat konzentrieren, der die Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen
den Klassen konstituiert. […] Der lange Prozess der Machtergreifung in einem
demokratischen Weg zum Sozialismus besteht im Wesentlichen darin, die innerhalb
der staatlichen Netzwerke verstreuten Widerstandszentren der Massen zu
entfalten, verstärken, koordinieren und zu leiten, sowie neue Zentren zu
schaffen und zu entwickeln. Dadurch können diese Zentren auf dem strategischen
Terrain des Staates zu effektiven Zentren realer Macht werden. Also nicht um
die simple Alternative zwischen Stellungs- und Bewegungskrieg, denn der
Stellungskrieg im Sinne Gramscis besteht immer in der Einkreisung des
Staates-als-Burg.“[45]
Nicht nur steht
Poulantzas damit doch recht deutlich im Gegensatz zur strategischen
Orientierung eines Antonio Gramsci. Mehr noch: Es ist aufgrund dieser
Ausführungen auch überhaupt nicht verwunderlich, dass er große Sympathien für
den Eurokommunismus hatte.[46]
Wir sollten nichts
vernebeln: Das Gegenstück zu diesen illusionären Konzepten des etappenweisen
Überwindens des bürgerlichen Staates ist die Praxis der Pariser Commune, die
Marx als „die endlich gefundene politische Form“[47] der Diktatur des
Proletariats bezeichnete. Aus all den bis hierhin dargelegten Charakteristika
des bürgerlichen Staates ‒ seiner strukturell auf die Wahrung der
kapitalistischen Produktionsweise basierenden Funktion wie auch der erbitterten
Verteidigung dieser Rolle durch die Bourgeoisie ‒ geht zwingend hervor: Die
Bourgeoise wäre mit dem Klammersack gepudert, wenn sie zuließe, dass der Garant
ihrer ökonomischen Macht – der Staat- stückchenweise demontiert wird. Von daher ist
auch „rebellisches Regieren“ nicht möglich, was sogar die in der Partei Die
LINKE nicht gerade auf dem linken Flügel verorteten Michael Brie und Gabi
Zimmer ansatzweise einsehen[48]. Die Erfahrung der
Geschichte lehrt vielmehr das Gegenteil: Entweder eine (reformistische) Partei
oder Parteienkoalition passt sich an und übernimmt die Verwaltung der Misere (und
ist dadurch gerade kein
mobilisierender Faktor im Klassenkampf) oder aber eine solche Regierung wird
aus dem Weg geräumt bzw. kommt gar nicht erst ins Amt. Die Geschichte lehrt nun
mal kein Gegenbeispiel zu diesen zwei Schicksalen reformistischer Parteien an
der Regierung.
Das beharrliche
Orientieren der Partei Die LINKE auf eine Regierungsbeteiligung belegt nur, wie
stark sie dem reformistischen Weg verpflichtet ist, der immer wieder in die o.
g. Sackgasse geführt hat.
15. 10. 2020
[1]
Ernest Mandel: „Die marxistische Staatstheorie“ deutsche Erstveröffentlichung
in „Gegen den Strom“ Nr. 1 (Dezember 2013), S. 8 https://intersoz.org/die-marxistische-staatstheorie/
[2]
Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. MEW 21:
165
[3]
Engels a. a. O. S. 166 f
[4]
Joachim Hirsch legt ‒ so in „Marxistische Staatstheorie.
Transformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems“, Hamburg (VSA),
2015 ‒ großen Wert auf den Unterschied des modernen Staats zu allen
Vorgängergebilden. Man könnte ihm allerdings vorwerfen, dass er nicht ausreichend
betont, dass sich mit diesen Änderungen gerade nichts an der grundlegenden
Wesensbestimmung des Staates geändert hat.
[5]
Zum Grundsätzlichen siehe Ernest Mandel: „Methodisches zur Bestimmung der
Klassennatur des bürgerlichen Staates“, in: Marxismus und Anthropologie.
Festschrift für Leo Kofler, Bochum 1980, S. 213 – 232; https://intersoz.org/methodisches-zur-bestimmung-der-klassennatur-des-burgerlichen-staates/
Zur Untermauerung im Konkreten siehe z. B. Mandels Buch „Der Zweite Weltkrieg“,
Frankfurt (isp-Verlag) 1991 und hier im Besonderen das Kapitel zum
Historikerstreit.
[6]
Wie die erweiterte Reproduktion des Kapitals konkret funktioniert, legte Marx
im II. Band des Kapitals dar.
[7]
Siehe dazu im Besonderen Kapitel 13 in Das
Kapital Band I.
[8]
Diese wesentliche Erkenntnis, die Marx uns vermittelt hat, scheint in der
Parteiführung der LINKEN nicht gerade stark verankert zu sein.
[9]
Karl Marx, „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“, MEW 1: 204
[10]
E. Altvater: “Zu einigen Problemen des Staatsinterventionismus“ in Probleme des Klassenkampfs, Nr. 3, hier
zitiert nach Ernest Mandel: „Der Spätkapitalismus“, Frankfurt (suhrkamp), 1972,
S. 436
[11]
Arbeitskraft und Lohn entsprechen sich wertmäßig, nicht aber Arbeit und Lohn.
Zur Unterscheidung siehe MEW 23: 181–200
[12]
Mehr zum Staatsfetischismus in Ernest Mandel: „Macht und Geld“, Köln (isp),
2000, im Besonderen Kapitel 1
[13]
Die Summe der vom Staat zu schaffenden
„allgemeinen Produktionsbedingungen“ steigt ständig und zwar im Gegensatz
zur Behauptung des Neoliberalismus. Das wird auch von der Tendenz zum angeblich
schlanken Staat nicht widerlegt. Schlanker (also mit möglicherweise weniger
Personal) bedeutet nicht weniger Bürokratie oder weniger staatliche
Aufgaben. In Wirklichkeit läuft „schlanker machen“ nur auf mehr Freiheit für
das Kapital hinaus.
[14]
Max Weber: „Wirtschaft und Gesellschaft“, Tübingen 1980, S. 128f.
[15]
Siehe etwa: „Es gehört zu den grundlegenden Aussagen der Klassiker des
Marxismus, dass der zweifellos wichtigste Aspekt in der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung in Bezug auf die Herausbildung des Staates als ‚besonderem
Apparat‘ in der Teilung zwischen manueller und geistiger Arbeit zu suchen ist. [Belege
führt Poulantzas nicht an.] […] Erst im kapitalistischen Staat erhält das
organische Verhältnis von geistiger Arbeit und politischer Herrschaft, von
Wissen und Macht seine vollendete Form.“ Nicos Poulantzas: „Staatstheorie.
Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus.“ Hamburg 2002 (VSA), S.
83 Ähnlich a. a. O. S. 88)
[16]
Hirsch, a. A. O. S. 134
[17]
Ernest Mandel: Methodisches zur Bestimmung …, a. a. O. S. 229
[18]
E. M. Methodisches …, a. a. O. S. 230
[19]
Ernest Mandel: Der Spätkapitalismus,
Frankfurt (suhrkamp) 1972, S. 441
[20]
E. M.: Der Spätkapitalismus, a. a. O.
S. 442
[21]
ebenda
[22]
Worauf sich der „tiefe Staat“ unter anderem stützt, hat Hans-Jürgen Schulz
dargelegt in „Die geheime Internationale. Spitzel, Terror und Computer. Zu Geschichte und Funktion der Geheimdienste
in der bürgerlichen Gesellschaft“, Frankfurt (isp-Verlag) 1982
Für eine Abkehr von der parlamentarischen Demokratie
können sich staatstragende reaktionäre Kräfte im gegebenen Fall in Frankreich
z.B. sehr stark auf die Polizei stützen, die bei den „élections professionnelles“
(sie entsprechen in etwa den Personalratswahlen) zu mehr als zwei Dritteln für
die zwei sehr rechten Polizei“gewerkschaften“ Alliance und Unité SGP
stimmt.
[23]
Georg Jungclas: „Die Formen des kapitalistischen Staates“, Hamburg (isp-Verlag)
1972, S. 1
[24]
Siehe dazu die für die marxistische Staatstheorie so grundlegende Schrift: Karl
Marx: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, MEW 8:111 ff
[25]
Siehe dazu Joachim Hirsch: „Marxistische Staatstheorie. Transformationsprozesse
des kapitalistischen Staatensystems“, Hamburg (VSA), 2015, im Besonderen
Kapitel 3
[26]
Foster/Suwandi „Covid-19 und der Katastrophenkapitalismus“ in Z, Zeitschrift
marxistische Erneuerung, Nr. 123, September 2020, S. 23
[27] E. Braw: „Blindsided on the Supply
Side”, in Foreign Policy, 4. März 2020
[28]
Foster Suwandi, a. a. O. S. 23
[29]
Hirsch a. a. O. S. 103
[30]
Mehr dazu in Antonio Gramsci: „Gefängnishefte“, Krit. Ausgabe Bd. 2, vor allem
in Heft 7
[31]
Louis Althusser: „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, Hamburg (VSA),
2010
[32]
Marx/Engels: Die deutsche Ideologie,
MEW 3: 46
[33]
Antonio Gramsci: „Gefängnishefte“, Heft 7, Krit. Ausgabe Bd. 2, S. 871–873,
hier zitiert nach Antonio Gramsci: „Zur Politik, Geschichte und Kultur“,
Frankfurt (Röderberg) 1980, S. 219 f
[34]
MEW 4 : 464
[35]
Friedrich Engels: Die Entwicklung des
Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. MEW 19, S.222, 1880
[36]
E. M. „Methodisches zur Bestimmung …“ a. a. O. S. 231
[37]
E. M. a. a. O. S. 229
[38]
Näheres dazu unter: https://gewerkschaftsforum.de/vw-warb-lobbyisten-aus-dem-aussenministerium-ab/
[39] Poulantzas, a. a. O. S. 289
[40] a. a. O. S. 279
[41] a. a. O. S. 278 f
[42] a. a. O. S. 278
[43] a. a. O. S. 280
[44] a. a. O. S. 281 f
[45] a. a. O. S. 285 f
[46]
Zur Kritik des Eurokommunismus sei auf Ernest Mandel verwiesen: „Kritik des
Eurokommunismus. Revolutionäre Alternative oder neue Etappe in der Krise des
Stalinismus?“, Berlin (Olle & Wolter) 1978, im Besonderen auf Kapitel 11
Die KPF, der Eurokommunismus und der bürgerliche Staat.“
[47]
MEW 17: 342
[48]
Michael Brie und Gabi Zimmer: „Sagen, was ist! Zur Strategiedebatte der Partei Die
LINKE im Vorfeld der Bundestagswahl 2021“ in Sozialismus 10–2020, S. 5