“Lieferdienste als Modell: Zu neuen Beschäftigungsformen auf digitalen Plattformen wie Uber, Deliveroo oder Amazon Mechanical Turk gibt es eine breite öffentliche Diskussion. Manche sehen darin eine Form des »digitalen Tagelöhnertums«. Die wissenschaftliche Literatur zu diesem Themenfeld ist in den letzten Jahren enorm angewachsen und kaum noch zu überblicken. Auch die Hans-Böckler-Stiftung hat eine Vielzahl von Forschungsprojekten zu diesem Thema gefördert. Dieser Report bietet einen Überblick über wichtige Ergebnisse und den aktuellen Stand der Forschung. (…) In diesem Report berücksichtigen wir, dass die technologischen Innovationen und organisatorischen Grundprinzipien auch in anderen Bereichen der Wirtschaft Fuß fassen: Crowdsourcing-Plattformen bieten ihre Dienstleistungen inzwischen auch für internes Crowdsourcing innerhalb von Unternehmen an. Management per Algorithmus gibt es nicht nur im Bereich der Plattformarbeit, auch wenn es dort am deutlichsten in Erscheinung tritt und am besten erforscht ist. Deshalb befasst sich dieser Report nicht nur mit der Plattformarbeit im engeren Sinne, sondern auch mit dem Arbeiten auf digitalen Plattformen im Allgemeinen…“ Studie von Stefan Lücking als Forschungsförderung Report 5 vom September 2019
bei der Hans Böckler Stiftung. Siehe dazu:
- BAG: Arbeitnehmereigenschaft von „Crowdworkern“ /Bundesarbeitsminister Heil will gegen Billiglöhne auf Digitalplattformen vorgehen
- Bundesarbeitsgericht: Arbeitnehmereigenschaft von „Crowdworkern“
“Die tatsächliche Durchführung von Kleinstaufträgen („Mikrojobs“) durch Nutzer einer Online-Plattform („Crowdworker“) auf der Grundlage einer mit deren Betreiber („Crowdsourcer“) getroffenen Rahmenvereinbarung kann ergeben, dass die rechtliche Beziehung als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist. Die Beklagte kontrolliert im Auftrag ihrer Kunden die Präsentation von Markenprodukten im Einzelhandel und an Tankstellen. Die Kontrolltätigkeiten selbst lässt sie durch Crowdworker ausführen. Deren Aufgabe besteht insbesondere darin, Fotos von der Warenpräsentation anzufertigen und Fragen zur Werbung von Produkten zu beantworten. Auf der Grundlage einer „Basis-Vereinbarung“ und allgemeiner Geschäftsbedingungen bietet die Beklagte die „Mikrojobs“ über eine Online-Plattform an. Über einen persönlich eingerichteten Account kann jeder Nutzer der Online-Plattform auf bestimmte Verkaufsstellen bezogene Aufträge annehmen, ohne dazu vertraglich verpflichtet zu sein. Übernimmt der Crowdworker einen Auftrag, muss er diesen regelmäßig binnen zwei Stunden nach detaillierten Vorgaben des Crowdsourcers erledigen. Für erledigte Aufträge werden ihm auf seinem Nutzerkonto Erfahrungspunkte gutgeschrieben. Das System erhöht mit der Anzahl erledigter Aufträge das Level und gestattet die gleichzeitige Annahme mehrerer Aufträge. Der Kläger führte für die Beklagte zuletzt in einem Zeitraum von elf Monaten 2978 Aufträge aus, bevor sie im Februar 2018 mitteilte, ihm zur Vermeidung künftiger Unstimmigkeiten keine weiteren Aufträge mehr anzubieten. Mit seiner Klage hat er zunächst beantragt festzustellen, dass zwischen den Parteien ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht. Im Verlauf des Rechtsstreits kündigte die Beklagte am 24. Juni 2019 ein etwaig bestehendes Arbeitsverhältnis vorsorglich. Daraufhin hat der Kläger seine Klage, mit der er außerdem ua. Vergütungsansprüche verfolgt, um einen Kündigungsschutzantrag erweitert. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Sie haben das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses der Parteien verneint. Die Revision des Klägers hatte teilweise Erfolg. Der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat erkannt, dass der Kläger im Zeitpunkt der vorsorglichen Kündigung vom 24. Juni 2019 in einem Arbeitsverhältnis bei der Beklagten stand…” BAG-Pressemitteilung vom 1. Dezember 2020zu 9 AZR 102/20
- Angestellte der Plattform: Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt entschied über den Beschäftigungsstatus eines Crowdworkers
“… Bislang wurden Crowdworker als Solo-Selbständige behandelt, sie haben daher keine Ansprüche auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, keinen Kündigungsschutz und müssen zudem für Alter und Gesundheit selbst vorsorgen. Für die Unternehmen ist das ein gewaltiger Kostenvorteil. Für die Auftragnehmer wird oft das Argument erhöhter Flexibilität ins Feld geführt. Das mag für die Mehrheit stimmen, für die Crowdworking nur eine Nebentätigkeit darstellt. Dem Crowdworking-Monitor von 2018 zufolge arbeitete ein Drittel der Crowdworker allerdings über 30 Stunden pro Woche. Mit Bewertungssystemen und der Zugangskontrolle haben die Unternehmen zudem mächtige Mittel in der Hand. Das führt dazu, dass bei Konflikten deren Betreiber am längeren Hebel sitzt und die Einkommenssicherheit der Auftragnehmer prekär bleibt. Ein solcher Fall wurde am Dienstag erstmals vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt verhandelt. Der Kläger hatte 14 Monate lang im Auftrag eines Plattformunternehmens gearbeitet und dabei die Warenpräsentation an Tankstellen oder in Supermärkten mit Fotos und Texten dokumentiert. In seiner Tätigkeit als Crowdworker hatte der Mann zwischen 15 und 20 Stunden pro Woche gearbeitet und damit durchschnittlich 1750 Euro monatlich verdient. Nachdem es zu einem Konflikt über die Brauchbarkeit von Fotos gekommen war, sperrte das Unternehmen im April 2018 das Benutzerkonto des Klägers und bot ihm keine weiteren Aufträge mehr an. Daraufhin zog er mit Hilfe der IG Metall vor Gericht. Er wollte feststellen lassen, dass er bei der Firma festangestellt sei, zudem forderte er Vergütungszahlungen seitens des Plattformbetreibers. Von den niederen Instanzen wurde er abgewiesen. Formell sei der Kläger frei gewesen, Aufträge abzulehnen, daher liege kein Anstellungsverhältnis vor. Das BAG hat der Klage nun stattgegeben. (…) Bezüglich der vom Kläger gestellten Vergütungsansprüche verwies das BAG zurück an das Landesarbeitsgericht, dass sich nun erneut mit dem Fall befassen muss. Eine 2019 seitens des Unternehmens vorsorglich ausgesprochene Kündigung erklärte das BAG für rechtmäßig.Die Entscheidung stelle klar, »dass Crowdworker nicht generell als Selbstständige anzusehen sind«, sagte die zweite Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner. Das sei zwar kein Präzendenzfall, könne aber ermutigend auf andere Crowdworker wirken, ihren Status überprüfen zu lassen. »Wir begrüßen außerdem, dass das Bundesarbeitsministerium es Crowdworkern erleichtern will, ihren Arbeitnehmerstatus überprüfen zu lassen und die Beweislast umzukehren, falls der Crowdworker Indizien dafür anführt, Arbeitnehmer*in zu sein.«...” Artikel von Moritz Aschemeyer vom 01.12.2020 beim ND online - Arbeitsschutz bei Onlineplattformen: Gegen Ausbeutung von Crowdworkern – Lieferando & Co stehen schon lange in der Kritik. Bundesarbeitsminister Heil will nun gegen Billiglöhne auf Digitalplattformen vorgehen.
“… Dass Arbeit über digitale Plattformen vermittelt wird, hat sich oft als hilfreich und vorteilhaft erwiesen – nicht nur in der Coronazeit. Nur: Für die Arbeiter:innen sind die Bedingungen manchmal ziemlich miserabel. Billiglöhne, Scheinselbstständigkeit, keine soziale Absicherung sind Begleiterscheinungen dieser digitalen Flexibilisierung. Lieferando zahlt beispielsweise nur knapp über dem Mindestlohn und versuchte in Köln die Wahl eines Betriebsrats zu torpedieren. Auch Essenslieferdienste wie Foodora und Deliveroo stehen immer wieder in der Kritik, arbeitsrechtliche Mindeststandards zu unterwandern
. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) möchte nun die Arbeitssituation der Plattformarbeiter:innen verbessern. Am Freitag legte er ein Eckpunktepapier mit dem Titel „Faire Arbeit in der Plattformökonomie“ vor. „Ich werde nicht zulassen, dass Digitalisierung in der Plattformökonomie mit Ausbeutung verwechselt wird“, sagte Heil. Allein auf die Selbstregulierung der Unternehmen zu setzen, werde nicht reichen. Für eine bessere soziale Absicherung will das Bundesarbeitsministerium etwa, dass soloselbstständige Plattformtätige in die gesetzliche Rentenversicherung mit einbezogen werden und die Plattformen sich an der Beitragszahlung beteiligen. Oder: Um besser gegen Scheinselbstständigkeit vorgehen zu können, soll bei Zweifeln vor Gericht die Plattform in der Pflicht sein, das Gegenteil zu beweisen. Zudem sollen je nach Dauer Mindestkündigungsfristen festgeschrieben werden – denn in der Praxis können Arbeiter:innen oft sehr kurzfristig gekündigt werden. (…) Nach einer EU-Erhebung beziehen 2,7 Millionen Menschen in Deutschland entweder mindestens die Hälfte ihres Einkommens aus Plattformarbeit oder arbeiten mindestens zehn Stunden pro Woche auf diese Weise, wie das Ministerium schreibt. Andere Studien kämen zu geringeren Zahlen. Das Arbeitsfeld scheint jedenfalls sehr heterogen zu sein. In einer Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2019
, für die rund 700 Plattformarbeiter:innen befragt wurden, gaben 59 Prozent der Befragten an, „sehr“ oder „eher“ zufrieden mit dieser Form der Arbeit zu sein. 31 Prozent hatten ein monatliches Nettoeinkommen von über 3.000 Euro zur Verfügung. Doch jeder vierte Befragte musste mit weniger als 1.500 Euro zurechtkommen. Fast alle gaben an, nur nebenberuflich Plattformarbeit zu leisten, um die Haupttätigkeit finanziell zu ergänzen…“ Artikel von Jasmin Kalarckal vom 27.11.2020 in der taz online
- Bundesarbeitsgericht: Arbeitnehmereigenschaft von „Crowdworkern“
- Siehe auch: Plattformökonomie: Sind die Mikrojobs die Vorboten eines neuen Niedriglohnsektors?
Der Beitrag Arbeiten in der Plattformökonomie. Über digitale Tagelöhner, algorithmisches Management und die Folgen für die Arbeitswelt erschien zuerst auf LabourNet Germany.