Dossier
“… Schon seit einigen Jahren belebt die Auseinandersetzung mit den Organizing-Methoden der US-amerikanischen Gewerkschaften die gewerkschaftliche Diskussion und Praxis in Deutschland. Eine systematische Kampagnenführung unter Einschluss gesellschaftlicher Bündnispartner, neue Formen der Ansprache betrieblich Aktiver, die gezielte Erschließung unorganisierter Bereiche und der Fokus auf den Aufbau betrieblicher Strukturen haben viele Gewerkschafter hierzulande inspiriert. Allerdings wurden in der deutschen Debatte bisher vor allem bestimmte Ausschnitte der amerikanischen Organizing-Diskussion rezipiert. (…) In den letzten Jahren wird verstärkt versucht, Organizing in die Regelarbeit der Gewerkschaften zu integrieren. Dies vollzieht sich in den einzelnen Gewerkschaften auf unterschiedliche Weise. So sind Organizing-Methoden Bestandteil der Ausbildung vieler Gewerkschaftssekretäre geworden und kommen gezielt in der Erschließungsarbeit bisher gewerkschaftsfreier Betriebe zum Einsatz. Hier tut sich unter anderen die IG Metall hervor, die in vielen Landesbezirken ressourcenstarke »gemeinsame Erschließungsprojekte« (GEP) ins Leben gerufen hat. Aber auch im Verdi-Landesbezirk NRW besteht eine Erschließungsabteilung. Das Organizing stieß in Deutschland wegen der weitverbreiteten Wahrnehmung der Krise des bisherigen sozialpartnerschaftlichen Modells auf großes Interesse. Während es von einigen nur als Methode zur Stärkung der Organisationsmacht in bisher gewerkschaftsfreien Randbereichen angesehen wurde, ohne die strategische Grundausrichtung der Gewerkschaften zu tangieren, waren andere von der Notwenigkeit einer umfassenderen strategischen Neuausrichtung der Gewerkschaften überzeugt.” Vorabdruck des leicht gekürzten Vorworts von Florian Wilde aus »Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing« von der US-amerikanischen Gewerkschafterin Jane McAlevey in der jungen Welt vom 6. Februar 2019
. Das Buch erscheint bei VSA zum Preis von 16,80 Euro (248 Seiten) – siehe auch ein Interview mit der Autorin und weiteres zur Debatte:
- Die Umkehrung des “Modells”. Gedanken von Kim Moody zu Jane McAleveys Vorstellungen zum Aufbau von Gewerkschaftsmacht
“Wenn Jane McAlevey über Organizing spricht, hören die Leute zu. Im Herbst 2019 führte McAlevey über Zoom eine Organizingschulung mit Übersetzung für rund 1.400 Personen in vierundvierzig Ländern durch. Als sie unter den Bedingungen der Covid-19-Isolation weitere wöchentliche Sitzungen veranstaltete, loggten sich über 3.000 Menschen ein. Angesichts der Tatsache, dass sich die organisierte Arbeiterschaft weltweit im Niedergang und in einer Krise befindet, ist es kein Wunder, dass sich so viele siegeshungrige Führer*innen, Aktivist*innen und Sympathisant*innen einschalteten, um zu hören, wie diese erfahrene Gewerkschafterin ihr Heilmittel gegen die seit langem bestehenden Leiden der Arbeiterschaft erläutern konnte. McAlevey, eine Community-Organizerin, die sich zur Gewerkschafts-Organizerin, Akademikerin und Gewerkschaftsberaterin gewandelt hat, hat viel über die Krankheiten der Arbeit und das Handwerk des Organisierens zu sagen. Wer die Zoom-Reihe verpasst hat, kann in den drei Büchern, die sie in den letzten Jahren geschrieben hat, sehr ausführlich darüber lesen. Anstatt sie einzeln durchzugehen oder zu versuchen, sich mit über 800 Seiten Erzählung auseinanderzusetzen, werde ich versuchen, McAleveys grundlegende Themen, Methoden und Analysen zusammenzufassen und kritisch zu analysieren, wenn auch nicht unbedingt in der Reihenfolge, in der sie in den drei Büchern erschienen sind. (…) Von zentraler Bedeutung für alle drei Bücher und für ihren Ansatz zur Wiederbelebung der ArbeiterInnenbewegung ist ihr Modell des Organizing. Dieses Modell, und sie beharrt darauf, dass es ein Modell ist, findet sich in schematischer Form in No Shortcuts. Es wird aber in allen Werken mit packenden Geschichten über ihre Erfahrungen als Organizerin, Funktionärin und Beraterin der Gewerkschaften vorgestellt, die das Modell zum Leben erwecken. Es muss erwähnt werden, dass die Organizing-Kampagnen, Vertragsverhandlungen, die sie auf diesen vielen Seiten anführt, im Gegensatz zu vielen anderen in den letzten Jahrzehnten am Ende erfolgreich waren. Das Modell, für das sie eintritt, existiert nicht im Vakuum. Es steht ausdrücklich im Gegensatz zu dem engeren Ansatz, den sie dem legendären Community Organizer Saul Alinsky zuschreibt, der laut McAlevey bei vielen US-Gewerkschaften eingesetzt wird. (…) Trotz der bildhaften Erzählung und der guten Anregungen wurde mir beim Durchlesen dieser drei Bücher immer bewusster, dass McAlevey in praktisch jeder Phase des Gewerkschaftslebens die Betonung auf die Initiative des professionellen Organizers (oder Funktionärs oder Beraters) legt. (…) Simple Berechnungen und gesunder Menschenverstand gebieten, dass Gewerkschaften unmöglich allein durch die Initiative professioneller Organizer und anderer Mitarbeiter wiederbelebt, demokratisiert und massiv ausgeweitet werden können. Sie können unmöglich alles tun und überall und jeden Tag in einer Bewegung von Millionen von Menschen sein, die versuchen, Dutzende von Millionen zu organisieren. (…) Ohne die tagtägliche Basisinitiative zahlloser unbekannter Organizer am Arbeitsplatz – seien es organische Führungspersönlichkeiten, Aktivisten oder interessierte Mitglieder mit Funktionen, die nicht größer sind als die von Betriebsratsmitgliedern oder örtlichen Gewerkschaftsfunktionären – können Gewerkschaften nicht funktionieren, geschweige denn wachsen. McAleveys Idee, gewerkschaftlich organisierte Arbeiter*innen zu benutzen, um sich den Unorganisierten in derselben Branche zu nähern, ist offenkundig eine gute Idee. Aber wenn dies nur der Initiative der zu wenigen, überarbeiteten Organizer überlassen wird, wird es nicht annähernd ausreichen. (…) Was sich jedoch als die wichtigste Entwicklung bei der Entstehung einer erneuerten Arbeiterbewegung erweisen könnte, ist die Zunahme der Selbsttätigkeit der Arbeiter. (…) Am vielleicht unerwartesten sind natürlich die vielen Anzeichen für die Selbsttätigkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich inmitten der Zwillingskrisen einer erneuten Rezession und Depression und der Covid-19-Pandemie, die sie beschleunigt hat, herausgebildet haben. Die Streikenden haben Schutzausrüstung, bezahlte Freistellung und andere Sicherheitsmaßnahmen gefordert. Die gewerkschaftlich organisierten Busfahrer in Detroit und die Beschäftigten in Briggs und Stratton in Milwaukee streiken für mehr Sicherheit. Nicht gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte streikten bei Instacart, Whole Foods, Walmart, Target und Fed Ex. Die Beschäftigten bei Amazon zum Beispiel sind dorthin gegangen, wo die traditionellen Gewerkschaften nur voller Furcht auftreten. Zahllose kleinere Aktionen haben zudem gezeigt, dass die Beschäftigten selbst aktiv sind. Die von den Arbeitern initiierte Organisation Amazonians United hat sich in einem “tiefen Organizing”, wie sie es nennen, engagiert, indem sie Einheimische im ganzen Land und Kontakte in der ganzen Welt gebildet und sich auf kleine Aktionen mit einem Ansatz gestützt hat, bei dem es keine professionellen Organizer gibt, was wiederum McAleveys Ordnung der Dinge durcheinander bringt…” Artikel von Kim Moody am 8. November 2020 bei OKG (Organisieren Kämpfen Gewinnen)– von den KollegInnen aus dem US-Amerikanischen übersetzt, erschienen im November 2020 im Spectre-Journal
als “Reversing the “Model”. THOUGHTS ON JANE MCALEVEY’S PLAN FOR UNION POWER”
- Mobilizing und Organizing. Die Gewerkschaften entdecken ihre Basis neu
“Den Gewerkschaften kommen die Mitglieder abhanden. Die Alten gehen in Rente oder sterben und bei den jungen Arbeitnehmern kommen nicht viele Mitglieder nach. Klassische Industriebetriebe haben ihre Produktion oft verlagert und geblieben sind die Angestellten, auf die die Industrie-Gewerkschaften bislang nicht oder weniger setzten. Das neue Erfolgskonzept kommt aus Amerika. “Machtaufbau durch Organizing” lautet das Motto und landauf, landab finden Seminare oder Workshops zu dem Buch “Keine halben Sachen” von Jane McAlevey statt. Mobilizing steht für die bisherige Gewerkschaftspolitik, die zu Tarifrunden oder politischen Anlässen ihre Mitglieder antreten lässt, sonst aber auf ihre Betriebs- und Aufsichtsräte setzt. Dem früheren Verdi-Chef wird dazu der Spruch nachgesagt: Ein guter Gewerkschafter müsse es nicht nur schaffen, die Kollegen auf die Palme zu bringen, sondern auch wieder herunter. Womit ausgedrückt sein soll, dass ein guter Gewerkschafter die Kollegen im Griff hat und antreten lässt, wenn die Gewerkschaft es braucht, und wieder an den Arbeitsplatz schickt, wenn sie ihr Ziel erreicht hat. Diese Politik steht nun in der Kritik. Man bescheinigt ihr ein Stellvertreterdenken, hier präsentiere sich die Arbeitnehmervertretung den Mitgliedern als eine Art Dienstleistungsbüro. (…) Was nun alles ganz anders werden soll, ist der Umgang mit den Kollegen. Hier sollen Neuerungen die Gewerkschaften wieder in die Lage versetzen, erfolgreich Dinge durchzusetzen und politisch an Einfluss zu gewinnen. Dafür steht der Begriff des Organizing. Unter diesem Titel wollen die Gewerkschaften neue Ansprachen und Beteiligungsmethoden praktizieren. Das aus Amerika kommende Konzept ist nicht speziell für Gewerkschaften entwickelt, sondern soll in der Lage sein, allen Bewegungen zum Erfolg zu verhelfen, Gewerkschaften wie Bürgerprotest. Dazu werden Befragungen bei den Beschäftigten durchgeführt oder überbetriebliche Solidaritätskomitees geründet. (…) Durch den Organizing-Ansatz sollen Neumitglieder gewonnen werden, und dort, wo dieses Konzept umgesetzt wird, scheint die Rechnung aufzugehen, dass sich der Erfolg in höheren Mitgliederzahlen niederzuschlägt. Es gibt aber auch Bedenken: “Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, wie sich die betriebsnahe Herangehensweise dauerhaft so gestalten lässt, dass sie trotz aller Sensibilität für die konkrete Situation vor Ort nicht zum Einfallstor wird für eine weitere Aushöhlung des Tarifgefüges in der Fläche.” Ein seltsames Bedenken von Seiten eines IG-Metallers! Hat doch seine Gewerkschaft seit Jahren Öffnungsklauseln in die Tarifverträge aufgenommen und so die Flächentarifverträge durchlöchert. Auch das Moratorium, das die IG-Metall den Arbeitgebern jüngst angeboten hat (vgl. Wem nutzt eine solche Gewerkschaft?), zielt doch gerade auf Vereinbarungen mit einzelnen Betrieben zur Zukunftssicherung. Was dies bedeutet, hat die Vergangenheit oft genug gezeigt: Ausnahmen vom Tarifvertrag, Lohnsenkungen, die den Betrieb retten sollen und die so die Konkurrenz der Unternehmen über die Löhne stattfinden lassen, statt diese durch Flächentarifverträge einzudämmen. Wenn daher die Parole im Raum steht, durch Organizing “aktionsfähige, harte Kerne betrieblicher Gegenmacht auszubilden”, dann stellt sich die Frage, gegen wen sich diese Macht wenden soll…” Artikel von Suitbert Cechura vom 29. Februar 2020 bei telepolis
- Don’t believe the Hype! Plädoyer für eine kritische Rezeption von Jane McAleveys Buch »Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing«
“Die deutsche Organizing-Szene ist in Bewegung geraten. Das mag seltsam klingen, impliziert Organizing doch immer Bewegung. Doch bis vor Kurzem schien es noch so, als hätten gerade im Gewerkschaftskontext viele OrganizerInnen begonnen, es sich ein wenig gemütlich zu machen. Warum auch nicht, könnte man fragen. Da waren eine ganze Reihe von Erfolgen wie im Fall des ver.di-Organizings an der Berliner Charité und den Krankenhäusern im Saarland. Da waren die verschiedenen Highlights des klug konzipierten GEP-Projekts der IG Metall in Baden-Württemberg, aktuell der bemerkenswerte Organizing-Schwenk der IGM-Geschäftsstelle Mannheim. Da war und ist ein großes Angebot an keineswegs schlecht dotierten Stellen, und auch manch externer Anbieter hat inzwischen gelernt, wie man die gewerkschaftliche Organizing-Kuh melken kann. Da waren Publikationen und Konferenzen, in denen man sich gegenseitig vergewisserte, dass es im Organizing voranging und mit denen man für personellen Nachschub in der Szene sorgte. Da war aber auch ein aufkommender Pragmatismus zu beobachten, ja, eine erste Anpassung an die Apparate, für die man arbeitete. Diese Situation scheint nun vorbei, und das hat mit einem Namen zu tun: Jane McAlevey. Wo man sich gegenwärtig umhört, berichten OrganizerInnen oftmals mit leuchtenden Augen von Workshops, Veranstaltungen, Lesungen und Projekten mit der Autorin des Buches »Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing«. Anlass genug also, sich zu fragen: Was hat es mit diesem Buch auf sich? Bietet es neue Impulse für das Organizing in Deutschland oder ist es gerade für ältere Organizer alter Wein in neuen Schläuchen? Warum fällt es – im Vergleich zu anderen Ländern – im deutschen Gewerkschaftsorganizing auf scheinbar besonders fruchtbaren Boden?…” Rezension von Slave Cubela erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – Ausgabe 8–9/2019 - US-Aktivistin über Streikorganisation: „Wir können Amazon schlagen!“
“„Organizing“ heißt das Zauberwort linker US-Gewerkschafterinnen. Jane McAlevey erklärt, warum die deutsche Streikkultur ihr den Schweiß auf die Stirn treibt. (…) Es gibt aktuell viele gelungene Mobilisierungen in den Bereichen Klimawandel, Antirassismus, Antifaschismus, Mieter*innenbewegung. Die Proteste sind groß, bekommen viel Aufmerksamkeit. Beim Organisieren geht es aber darum, reale Macht langfristig aufzubauen. Es geht darum zu gewinnen. Ich habe das Organisieren bei Leuten gelernt, denen es wiederum von Gewerkschafts-Organizerinnen der 1930er beigebracht wurde. Die waren Mitglieder der CIO, der radikaleren der beiden großen Industriegewerkschaften in den 1930ern. Diese Gewerkschaft hatte damals viele Mitglieder, viel Macht und Einfluss. Die sind sehr strategisch vorgegangen. Sie haben sich notiert, wo viele Menschen arbeiten, wen sie schon erreicht haben und wen nicht. Dann sind sie die Fabriken durchgegangen, Etage für Etage, Büro für Büro, Abteilung für Abteilung, bis der Letzte überzeugt war, bis es eine maximale Beteiligung an den Streiks gab. [Das Ziel ist, dass alle streiken?] Das muss das Ziel sein! Dass einhundert Prozent aller Arbeiter*innen streikbereit sind. Wenn ihr Deutschen sagt: „Drei Abteilungen haben ihre Arbeit niedergelegt“, dann bekomme ich als US-Amerikanerin Schweißausbrüche! In den USA würden die 30 Prozent einfach rausgeschmissen. Aber auch ihr solltet die 100 Prozent anstreben, denn nur so können wir eine Machtumkehr in der Gesellschaft erreichen. Nur so haben wir den mächtigen und reichen Unternehmen wirklich etwas entgegenzusetzen. (…) Alle wichtigen Dinge müssen immer vorher besprochen werden. Wir machen eine große Versammlung, die Arbeiter*innen stimmen über die Verträge ab, die sie vorher selbst ausgearbeitet haben. Alle, die wollen, können mitmachen. Das sind oft riesige Versammlungen mit Tausenden Leuten! Wir schreiben unsere Vertragsbedingungen für alle gut lesbar auf, bevor wir abstimmen lassen – und der Punkt, dass wir uns nicht spalten lassen, muss auf die Liste mit drauf! Streiks dauern lange, sind kräftezehrend. Aber alle wissen dann vorab, worauf sie sich einlassen und was sie wollen. (…) Die NRA, die National Rifle Organization, hat die Menschen organisiert, die Donald Trump gewählt haben. Das ist komplett unter dem Radar der Demokraten abgelaufen, weil sie keine Ahnung vom Organisieren haben. Die Rechten haben genau das gemacht, was ich predige…” Interview von Nina Scholz vom 17.3.2019 bei der taz online
- Siehe unsere Rubrik im LabourNet-Archiv: (US-amerikanische) Organisierungsdebatte
Der Beitrag [Jane McAlevey: There Is Power in a Union] Machtaufbau durch Organizing – Erfahrungen aus den USA inspirieren deutsche Gewerkschaften erschien zuerst auf LabourNet Germany.