Seit Regierungsübernahme der einst konservativen, inzwischen neoliberal-reaktionären Néa Dimokratía (ND) im Juli 2019, betreibt diese die autoritäre Umgestaltung des griechischen Staates. Einer der Protagonisten dieser Umgestaltung, der parteilose „Bürgerschutzminister“ Michális Chrysochoídis, stellte am 21. Januar 2020 in einer Online-Pressekonferenz eine neue Verwaltungsvorschrift für die Polizei vor. Darin wird jede Person, die sich weigert, einer polizeilichen Anordnung Folge zu leisten, mit sechs Monaten Gefängnis oder Geldstrafe bedroht. Demonstrant*innen, die Beamte beschimpfen, bedrohen oder Gewalt gegen sie ausüben, werden mit Freiheitsentzug bis zu drei Jahren, die Organisator*innen der Versammlung mit mindestens drei Jahren Haft bestraft. Die drakonischen Strafen können kollektiv alle versammelten Demonstrant*innen treffen und basieren auf zuvor verabschiedeten, restriktiven Änderungen des Demonstrationsrechts. Anmelder*innen von Demos und Kundgebungen sollen diese über das Portal der Finanzämter anmelden, womit sie direkt für die finanzielle Haftung greifbar sind. Strafen, die nicht bezahlt werden, gelten als Steuerhinterziehung. Bisher werden Demos und Kundgebungen in Griechenland in der Regel nicht angemeldet, es wird schlicht dafür mobilisiert.
Ebenfalls neu ist die Legalisierung präventiver Festnahmen im Vorfeld einer Versammlung, ohne dass den Festgenommen eine Straftat zur Last gelegt wird. Eine Praxis, die bevorzugt gegen Aktivist*innen der anarchistischen Bewegung angewandt wird. Und auch über den „Schutz der Journalisten“ sowie die „ungestörte Durchführung polizeilicher Maßnahmen“ hat sich „Repressionsminister“ ((1)) Chrysochoídis Gedanken gemacht: „Die Polizei wird eine Schutzzone für Journalisten definieren und ein Polizeioffizier wird während der Versammlung als Verbindungsoffizier für die Kommunikation mit diesen fungieren. Ziel ist Zusammenarbeit und gegenseitiges Verständnis.“ Ein Szenario, das Journalist*innen und Fotograf*innen in „Schutzzonen“ verweist, legt nahe, dass es um deren Kontrolle geht. Journalistische Augenzeugenreportagen sollen verhindert werden, da wiederholt die Misshandlung von Demonstrant*innen durch die Polizei mit Fotos und Filmen nachgewiesen wurde. Zwar änderte dies nichts an der herrschenden Straffreiheit für gewalttätige Polizisten, doch litt deren Ruf in der Öffentlichkeit. Um den aufzupolieren und „nach Ausschreitungen die Wiederherstellung von Recht und Ordnung zu gewährleisten“, will Chrysochoídis, der „Minister zum Verprügeln der Bürger“ ((2)), die Zusammenarbeit von Polizei und Presse stärken: „Die Mitarbeit der Massenmedien ist essenziell, weshalb das Ministerium für Bürgerschutz und die Polizei ihnen die notwendigen Informationen für eine verantwortungsbewusste Information der Bürger zur Verfügung stellen.“ Auf diese Art sollen im Fall von brutaler Polizeigewalt unautorisierte Beweisfotos oder Videos generell zu Fake News erklärt und die unabhängige Kontrolle der Polizeiarbeit mit journalistischen Mitteln unmöglich gemacht werden.
Obwohl Kundgebungen und Demonstrationen laut griechischer Verfassung als Grundrechte geschützt und nur bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit allein vom Parlament einschränkbar sind, werden sie in letzter Zeit einfach verboten. So am 17. November 2020 (Jahrestag der blutigen Niederschlagung des Polytechnikum-Aufstands gegen die Militärdiktatur 1973) und am 6. Dezember 2020 (Jahrestag der Ermordung von Aléxandros Grigorópoulos durch Polizeibeamte 2008). Beide Male wurde das Parlament übergangen und mit Berufung auf die Covid-19-Pandemie vom Polizeichef Griechenlands alle öffentlichen Versammlungen untersagt. Das Bürgerschutzministerium berief sich auf eine angebliche Empfehlung des Rats der Virologen, der in der Pandemie Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionszahlen vorschlägt. Eine glatte Lüge, wie sich herausstellte, da der Rat der Virologen keinerlei Empfehlung für die Demonstrationen gegeben hatte.
Als „Gefahr für die öffentliche Gesundheit“ abgeschoben
Trotz des am 6. Dezember 2020 per Dekret erlassenen landesweiten Versammlungsverbots wollten auch im Pandemie-Jahr tausende Menschen zumindest Blumen am Tatort der Ermordung von Aléxandros Grigorópoulos in Exárchia niederlegen. Dies wurde von einem martialischen Aufgebot diverser Spezialkommandos mit gewohnter Brutalität verhindert. Eine der 399 vorläufig Festgenommenen und 135 Verhafteten des Tages war Maria Oshana, die Geschäftsführerin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Athen. Mit einem Blumenstrauß in der Hand in Exárchia unterwegs zu sein reichte zur Festnahme. Ebenfalls in Exárchia festgenommen wurde der anarchistische Aktivist Errol, ein seit 8 Jahren in Griechenland lebender Franzose. Bei allen lautete der Vorwurf auf „Verbreitung der Pandemie des neuen Coronavirus“. Im Polizeipräsidium wurde Errol Zeuge, wie ein achtzehnjähriger Leidensgenosse einen epileptischen Anfall erlitt. Gemeinsam mit einem ebenfalls festgenommenen Anwalt leistete er erste Hilfe, während anwesende Beamte dumme Sprüche machten.
Während die anderen Festgenommenen ab 23 Uhr nach und nach entlassen werden, isoliert man Errol nach dem Vorfall und verschleppt ihn ins berüchtigte Abschiebezentrum in der Pétrou Rálli Straße. Es heißt, er solle als „Gefahr für die öffentliche Gesundheit“ abgeschoben werden. Am 10. Dezember wird er ins Flüchtlingslager in Amygdaléza verbracht und in Isolationshaft gesteckt. Laut einem herausgeschmuggelten, auf Indymedia Athens veröffentlichten Kassiber, stuft ihn die Polizei als „nationale politische Gefahr“ ein. Im Schnellverfahren ohne anwaltliche Unterstützung wird seine Abschiebung inklusive Einreiseverbot für sieben Jahre beschlossen. Am 19. Dezember holen ihn vermummte Beamte „zum Coronatest“ aus der Zelle. Doch sie fahren ihn zum Flughafen, wo er in Handschellen von Beamten der „Anti-Terror-Einheit“ gegen seinen Widerstand ins Flugzeug nach Frankreich verschleppt wird. Weder Anwälte noch Familie sind informiert, die anderen Passagiere schauen weg. Da nichts gegen ihn vorliegt, lässt ihn die französische Polizei auf dem Flughafen von Paris frei. Errol, der auch in Griechenland nie verurteilt wurde, war der Staatsmacht als anarchistischer Aktivist und wegen seiner Teilnahme an Mobilisierungen gegen den Goldabbau in Chalkidikí sowie als Unterstützer von Hausbesetzungen in Thessaloníki und Athen bekannt. Er hat angekündigt „auf jeden Fall, legal oder illegal“ nach Griechenland zurückzukehren. In einer Presseerklärung vom 11. Januar betonen seine griechischen Anwälte: „Sowohl die Inhaftierung als auch das Betreiben der Abschiebung sind Monumente der Unrechtmäßigkeit, möglicherweise einzigartig im europäischen Raum, und ein klares Indiz dafür, dass die griechische Polizei außerhalb jeder Kontrolle agiert und weder griechische noch europäische Gesetze achtet.“
Rache als Gesetz – Dimítris Koufodínas im Hungerstreik
Doch dies gilt nicht nur für die Polizei. Auch die griechische Regierung und der schon erwähnte „Repressionsminister“ Chrysochoídis, halten sich nicht an Gesetze. Im Fall des inhaftierten Dimítris Koufodínas sind ihnen gar selbst erlassene Gesetze egal. Koufodínas verbüßt eine Haftstrafe von 11 Mal lebenslänglich zuzüglich 25 Jahren. Er ist das bekannteste Gesicht der „Revolutionären Organisation 17. November“ (17N), die von 1975 bis zur Zerschlagung 2002 mehr als 100 Anschläge verübte und insgesamt 23 Menschen tötete. Wie andere griechische Untergrundorganisationen hat der 17N seine Wurzeln im Widerstand gegen die Militärjunta 1967–74. Der Name leitet sich vom Studentenaufstand am Polytechnikum ab, der am 17. November 1973 blutig niedergeschlagen wurde. Das erste Todesopfer des 17N war im Dezember 1975 Patrick Welch, der damalige Leiter des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA in Athen. Seitdem war die Zerschlagung der Organisation eine grundlegende Forderung der USA, die großen Druck auf griechische Regierungen ausübten. Die meisten Anschläge des 17N richteten sich gegen multinationale Konzerne, griechische Institutionen und Vertreter der Staatsgewalt. 1989 fiel der ND-Politiker Pávlos Bakogiánnis, Schwager des jetzigen Ministerpräsidenten, Vater des derzeitigen Athener Bürgermeisters und Ehemann der früheren Außenministerin, der Organisation zum Opfer. Nach einem missglückten Anschlag 2002 und der Verhaftung mehrerer mutmaßlicher Mitglieder, die schnell begannen sich gegenseitig zu beschuldigen, stellte sich Koufodínas der Polizei. Er übernahm die politische Verantwortung für die Aktionen des 17N und forderte die Verhafteten auf, ihre Würde zu bewahren und sich ihrer politischen Verantwortung zu stellen. Seine Haltung brachte ihm Respekt in Teilen der Gesellschaft ein. Sechzehn Jahre verbrachte Koufodínas in einem speziellen unterirdischen Trakt des Gefängnisses Korydallós in Athen, bis er 2018 ins Agrargefängnis von Vólos verlegt wurde. In Agrargefängnissen ist es möglich die Haftzeit durch Arbeit zu verkürzen. Obwohl er seit 2010 Anspruch auf Hafturlaub hatte, wurde ihm dieser erstmalig 2017, in der Folge weitere fünf Mal gewährt. Der Néa Dimokratía nahestehende Fernsehkanäle und Politiker*innen der Partei, darunter Ministerpräsident Kyriákos Mitsotákis und weitere Familienmitglieder, bekämpften die Gewährung von Hafturlaub für Koufodínas systematisch. Mitsotakis legte sich öffentlich fest, diesen Häftling von allen Hafterleichterungen auszuschließen und die Strafverbüßung in Agrargefängnissen zu verhindern, solle er an die Macht kommen. Lautstarke Interventionen gab es auch seitens der US-amerikanischen Botschaft in Athen. Tatsächlich wurde ihm ab Juli 2019 ohne Rechtsgrundlage jeder weitere Hafturlaub verweigert. Im Dezember 2020 erließ die Regierung dann ein Gesetz, das Hafturlaub für „terroristische“ Straftäter sowie deren Inhaftierung in Agrargefängnissen ausschließt. Während der Debatte im Parlament wurde Koufodínas offen als Adressat des Gesetzes benannt. Am 22. Dezember wurde er ohne Ankündigung, ohne Kontakt mit Angehörigen und ohne seine persönlichen Sachen von Vólos nach Domokós verlegt. Laut der Bestimmungen des ausschließlich gegen ihn gerichteten Gesetzes hätte er nach Korydallós zurückverlegt werden müssen. Der Kontext macht deutlich, dass die Verlegung aus Gründen persönlicher Rache einer politisch mächtigen Familie und unter dem Druck der US-Botschaft erfolgte, was einen beispiellosen Fall willkürlichen Eingriffs in das Justizsystem darstellt. Seit 8. Januar 2021 befindet sich Koufodínas im Hungerstreik und fordert seine laut Gesetz vorgesehene Verlegung nach Korydallós, wo er zumindest in der Nähe seiner Angehörigen wäre. Während Kundgebungen und Demos zur Unterstützung von Koufodínas mit brutaler Polizeigewalt zerschlagen werden, schwebt dieser nach 34 Tagen Hungerstreik inzwischen in Lebensgefahr. (12.02.)
Regierungsumbildung nach rechts
Mit 24 Minister*innen und Staatssekretär*innen ist Mitsotákis nach seiner Kabinettsreform Anfang Januar 21 weit entfernt von dem im Wahlkampf 2019 versprochenen „schlanken, effektivem Team“. Das rechtsradikale Profil wurde dagegen geschärft. Wirtschaftsminister Ádonis Georgiádis und der vom Agrarressort ins Innenministerium gewechselte Mákis Vorídis entstammen ursprünglich der rechtspopulistischen Partei „Laos“ und sind seit Regierungsantritt im Kabinett. Beide haben eine rechtsextreme Vergangenheit. Bei Vorídis, der seine politische Karriere als Anhänger der Militärjunta begann, kommt antisemitische Hetze hinzu. Anders als Georgiádis, der auch Co-Vorsitzender der ND ist und öffentlich bedauerte, antisemitische Hetzliteratur beworben zu haben, leugnet Vorídis einfach alles. Als Innenminister soll er nun umsetzen, was er 2019 als Ziel formulierte: „Die Grundlagen schaffen, damit linke Ideologie keinen Fuß mehr auf die Erde bekommt.“ Auch im Bildungsministerium wurde der ultrarechte Flügel durch die Berufung von Geórgios Stýlos zum Staatssekretär gestärkt. 2014 musste Stýlos den gleichen Posten nach nur zwei Monaten räumen, weil er sich im Parlament positiv auf eine Gewalttat des Nazis Ilías Kasidiáris (Chrysí Avgí) gegen eine kommunistische Abgeordnete bezogen hatte. Staatssekretär im Marineministerium wurde der für eine rechtsextreme Tat bereits kurzfristig aus der Partei ausgeschlossene Kóstas Katsafádos. Der hatte vor 17 Jahren als Funktionär der ND-Studentenorganisation, eine Sitzung des Rektorats der Universität Piräus gestürmt und den damaligen Rektor Vasílis Bénos krankenhausreif geschlagen. Staatssekretärin im Ministerium für Integration wurde die Sprecherin des ehemaligen ND-Ministerpräsidenten Antónis Samarás, Sofía Voúltepsi. Die rechte Hetzerin ist ausgerechnet für die Integration von Einwander*innen verantwortlich. Als im Oktober 2014 unter der Samarás-Regierung die oppositionelle Syriza ihre Solidarität mit Roma ausdrückte, die sich wehrten, aus ihrem Stadtteil umgesiedelt zu werden, kritisierte sie Syriza und erklärte: „Neben den Roma leben Menschen.“ Heute befürwortet sie die Inhaftierung von Asylbewerber*innen, nennt das Gesetz zur Erlangung der griechischen Staatsbürgerschaft für Kinder von Einwanderern „Einladung“ und Flüchtlinge „unbewaffnete Invasoren, Waffe in den Händen der Türken“.
Ein wenig Hoffnung macht, dass das Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen die Rückschiebung von in Griechenland anerkannten Flüchtlingen vorerst untersagt hat. Im Urteil vom 21. Januar 2021 stellte das Gericht in Münster fest, dass in Griechenland „generell die ernsthafte Gefahr besteht, dass sie im Falle ihrer Rückkehr die elementarsten Bedürfnisse (…) nicht befriedigen können“. Die Entscheidung hebt Urteile niederer Instanzen auf. Konkret ging es um zwei Geflüchtete aus Syrien und Eritrea, die in Griechenland als schutzberechtigt anerkannt und weiter nach Deutschland geflohen waren – eine Folge der griechischen Abschreckungspolitik. Die ND-Regierung will Flüchtlingen und Immigranten das Leben so unerträglich wie möglich machen, was Minister mehrfach öffentlich wiederholten. Charakteristisch sind die Aussagen von Ádonis Georgiádis: „Sie sollen weggehen. Das ist nicht rechtsradikal. Dass sie weggehen sollen, ist die Meinung der Mehrheit der Griechen. Sind Griechen etwa rechtsradikal? Sicher sollen sie weggehen. Wir haben sie nicht eingeladen. Sie sind von allein gekommen“, erklärte er im September 2020. Im Wahlkampf hatte Georgiádis seinen Wähler*innen geschlossene Lager für Asylsuchende versprochen, was mit Hilfe der Corona-Pandemie umgesetzt wurde.